Interview mit Jenny Erpenbeck
“Wahrheit ist wie ein Chor”
In ihrem Roman Kairos verknüpft die Autorin Jenny Erpenbeck die Geschichte einer zerstörerischen Liebe mit dem Untergang der DDR. 2024 hat sie den International Booker Prize für Kairos erhalten. Diesen Sommer ist ihr Buch auf Französisch beim Pariser Verlag Gallimard erschienen. Es ist für den Prix Femina und den Prix Médicis nominiert.
Von Franz Paul Helms
Der Journalist Franz Paul Helms trifft die Autorin für ein Gespräch über Erinnerung, Verlust und die Frage, wie private und politische Umbrüche ineinandergreifen. Jenny Erpenbeck sitzt an einem blauen Tisch im Garten des Goethe-Instituts in Nancy. Um sie herum: Bäume, bunte Stühle und ein Fotograf, der sie von Weitem fotografiert. Gerade hat sie vor vierzig Besucher*innen ihren Roman Kairos vorgestellt, danach Bücher signiert. Es war die vierte Veranstaltung in drei Tagen.
Frau Erpenbeck, Ihr Roman Kairos wurde in diesem Jahr ins Französische übersetzt. Sie haben ihn in den vergangenen Tagen in Paris und Nancy vorgestellt. Wie haben die französischen Leserinnen und Leser auf das Buch reagiert?
In Frankreich haben mich nach meinen Veranstaltungen viele Menschen angesprochen und gesagt, wie interessant sie Kairos fänden, weil sie so wenig über die DDR oder die Schwierigkeiten des Umbruchs wüssten. Das hat mich überrascht, denn hier gibt es ja eine lange Tradition des linken Denkens. Ich hätte erwartet, dass es in Frankreich vielleicht mehr Wissen über diese Zeit gibt.
Für die Übersetzung ins Französische hat Ihre Übersetzerin Rose Labourie sogar das Innenleben einer Ost-Berliner Straßenbahn studiert. Wie war die Zusammenarbeit?
Es hat sich bewährt, dass ich alle bisher gestellten Fragen und Antworten meiner ÜbersetzerInnen in einem Dokument sammle, auf das jeder, der neu hinzukommt, zugreifen kann. Aber auch darüber hinaus habe ich mit Rose Labourie eng zusammengearbeitet, wir haben ausführlich über alle Fragen gesprochen, die speziell die Übersetzung ins Französische betreffen. Und obgleich ich nur wenig Französisch verstehe, konnte ich bei den Lesungen in den vergangenen Tagen bemerken, wie genau ihre Übersetzung ist. Natürlich kann man eine Sprache nie restlos in eine andere übersetzen. Es geht immer etwas verloren, aber es kommt auch etwas hinzu – durch die andere Kultur und die Kreativität der Übersetzerin.
In Deutschland wurde Ihnen vorgeworfen, Kairos verkläre den Alltag der DDR. Finden Sie es einfacher, über die DDR und ihren Untergang im Ausland – jenseits dieser Debatten – zu sprechen?
Ich halte es nicht für „Verklärung“, wenn ich davon erzähle, dass Menschen in der DDR ins Kino gingen, in Cafés, dass sie Bücher lasen und sich verliebten. Ich kenne niemanden, der die DDR in ihrer damaligen Form zurückhaben möchte. Ich würde deshalb nicht sagen, dass es einfacher ist, im Ausland darüber zu sprechen. Ich bemerke aber, dass sich in Deutschland eher Menschen aus dem Osten für dieses Buch interessieren. Kairos erzählt ja vor allem von ihren Erfahrungen. Im Ausland ist der Blick auf das Buch weniger durch politische Schuldzuweisungen verstellt. Da wird auch mal nach literarischen Aspekten gefragt. Auch in den USA gibt es großes Interesse an Kairos.
Wie erklären Sie sich das?
Ich vermute, das liegt daran, dass sich die Gesellschaft dort gerade verändert. Und in dem Buch geht es ja auch darum, wie man als Mensch mit so einem Umbruch umgeht. Passt man sich an? Geht man weg? Wie verhält man sich, wenn man anderer Meinung ist? Das sind keine einfachen Fragen.
Kairos erzählt von der zerstörerischen Liebesgeschichte zwischen der 19 Jahre alten Katharina und dem mehr als doppelt so alten Rundfunkredakteur und Schriftsteller Hans. In Ihrem Buch verknüpfen Sie die Beziehung zwischen den beiden mit dem Ende der DDR. Warum haben Sie diese beiden Ebenen zusammengeführt?
Das Interessante ist nicht, dass Hans’ und Katharinas Beziehung zufällig parallel zum Ende der DDR verläuft. Sondern, dass beides wirklich miteinander verbunden ist. Manche privaten Probleme werden politisch gelöst, manche politischen Probleme privat. Bislang haben sich viele Erzählungen über die DDR auf die Dramen der Wiedervereinigung, auf die Mauer und die Stasi konzentriert. Aber es gab eben auch Alltag und Normalität und damit auch den Verlust dieser Normalität. Das muss aber differenziert und konkret erzählt werden. Was mir auch noch wichtig erscheint: Durch die sowjetische Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg war das politische Bezugssystem der DDR ein anderes. Der sowjetische Stalinismus der 30er-Jahre hat die DDR auch Jahrzehnte später noch geprägt.
Inwiefern?
Es gab ein großes Misstrauen zwischen denen, die gerade noch Faschisten gewesen waren und der Führungsriege der DDR, die zum großen Teil aus der sowjetischen Emigration zurückkam. Das war sozusagen der Geburtsfehler des Landes. In Kairos wollte ich auch davon erzählen, wie dieses Generationenproblem, dieses Misstrauen, das Sich-Selbst-Belügen und die Manipulation bis in die privaten Beziehungen durchschlagen.
Also ist Kairos auch eine Alltagsgeschichte des Endes der DDR?
Anders als Historiker, kann ich als Schriftstellerin die Emotionen dieser Zeit fühlbar machen, so wie auch ich sie erlebt habe: als ein großes Durcheinander. Denn da war natürlich einerseits die Freude über die Maueröffnung und dieses Staunen, dass man plötzlich ganz neue Möglichkeiten hat. Andererseits haben viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, während die Mieten sich verzehnfachten. Da gab es plötzlich eine Existenzangst, wie wir sie vorher nicht gekannt hatten. Die Euphorie und auch die basisdemokratischen Experimente dieser Zeit waren leider schnell wieder vorbei.
Hans ist verheiratet, für Katharina ist es die erste große Liebe. Je länger die Beziehung dauert, desto abhängiger wird Katharina von Hans. Er quält und manipuliert sie. Warum halten wir an Dingen fest, die uns wehtun?
Hans verlängert die Beziehung, indem er Katharinas Schuldbewusstsein instrumentalisiert und ihr Selbstbild zerstört. Darin besteht der eigentliche Missbrauch. Um aber eine Beziehung zu verlassen, braucht man Selbstbewusstsein und den Mut, ins Leere zu gehen. Beides hat Katharina nicht mehr. Eine erste große Liebe ist ohnehin etwas Besonderes: Man erlebt sie in einer Radikalität, die man später nie wieder spürt. Da ist diese Überzeugung, dass man ohne den anderen nicht überleben kann.
Aber eigentlich kann man es.
Natürlich, aber es fühlt sich nicht so an. Katharina ist ja schon allein vom politischen Umbruch überfordert. In dieser Zeit, in der sich die ganze Gesellschaft verändert, hält sie also desto stärker an der privaten Beziehung fest, auch wenn sie ihr wehtut. Ich glaube, in dieser Erfahrung haben sich viele meiner Generation wiedergefunden.
Hans ist ein überzeugter Kommunist. Das Ende der DDR erschüttert seine Identität. Katharina hingegen ist jung genug, um neu anzufangen. Stehen Hans und Katharina für einen Zwiespalt, den Sie vielleicht auch selbst zum Ende der DDR empfunden haben?
Ich werde oft nur nach Katharina gefragt, dabei finde ich mich tatsächlich in beiden wieder: in Katharina, die diese Neugier hat und nach vorn geht, aber auch in Hans, der nie ganz loslassen kann und zurückblickt. Aber in vielerlei Hinsicht ist Hans mir natürlich auch fremd. Über die DDR gibt es viele verschiedene Erzählungen – jeder hat ja seine ganz eigenen, konkreten Erfahrungen mit diesem Land gemacht. Also haben all diese Geschichten ihre Berechtigung. Es ist zu eng gedacht, wenn von einem „Ostler“ immer in erster Linie erwartet wird, dass er betont, wie froh er über die Freiheit nach der Wiedervereinigung ist. Zumal diese Freiheit den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern nicht von der Bundesrepublik „geschenkt“, sondern in der friedlichen Revolution selbst erkämpft wurde. Wahrheit ist immer eine kollektive Erfahrung. Ein Chor, kein Solo. Jeder erlebt Geschichte anders, und auch Erinnerung ist wandelbar: Sie sammelt sich, verändert sich und ist nie völlig zementiert. Wer wirklich etwas verstehen will, muss viele dieser Stimmen hören und wahrnehmen.
Das Buch verhandelt auf mehreren Ebenen Veränderung und Verlust. Sind das Themen, die heute vielleicht sogar relevanter erscheinen als noch vor ein paar Jahren?
Überall auf der Welt merken Menschen, dass sich die Dinge gerade verändern und nicht so bleiben, wie sie sind. Sei es durch Naturkatastrophen, Kriege oder Tendenzen zu Diktaturen. Gerade wir im Westen erleben, dass es für uns vielleicht nicht so bequem bleibt, wie wir es lange gewohnt waren. Und dass wir in unserer Lebenszeit womöglich einen echten Umbruch erleben könnten.
Kann man das eigentlich lernen, etwas zu verlieren?
Das frage ich mich auch … Und darum geht es natürlich auch in meinen Büchern. Wie gehen Leute damit um, dass sie sich verabschieden müssen von einem Ort, von einem Leben? Wie können wir damit umgehen, dass wir irgendwann sterben, dass wir nicht mehr da sein werden? Ich sammle viel und halte an Dingen fest, die mir wichtig sind. Bei mir zu Hause in Berlin steht zum Beispiel noch ein ungeöffneter Kanister Olivenöl, den meine Großeltern aus ihrem Exil in Moskau mit nach Deutschland gebracht haben. Er erinnert mich an sie und ihre Geschichte. Aber an Dingen festhalten zu können, ist ein Privileg. In einer kleinen Wohnung ist das schon schwierig. Und bei Flugreisen gibt es ja immer die Anweisung, im Notfall seine persönlichen Gegenstände zurückzulassen. Wenn es um Leben oder Tod geht, dann ist aller Besitz plötzlich unwichtig. Dann kann man nur mitnehmen, was immateriell ist: die Erinnerungen, die Kochrezepte, die Lieder.