Lagos, 22.12.2008: Mit besten Grüßen vom Propheten

In Nigeria sind Pfarrer Multimillionäre und Kirchen so groß wie Fußballstadien. Ein Erlebnisbericht aus dem gläubigsten Land der Welt
Wer den größten Sonntagsgottesdienst der christlichen Welt erleben will, muss früh aufstehen. Spätestens um vier, sagt der Portier in meinem Hotel. Das halte ich nach allen Gesetzen der Vernunft dann doch für übertrieben. Die Messe beginnt um sieben, und vom Zentrum der 17-Millionen-Stadt Lagos sind es keine 50 Kilometer bis zur Winner's Chapel in jenem nigerianischen Sumpfgebiet, das sich Canaan-Land nennt. Ich fahre um fünf Uhr los, lerne aber schon bald, dass Nigeria nicht nach den Gesetzen der Vernunft funktioniert.
Kurz vor sieben stecke ich immer noch am Nordrand von Lagos fest, eingekeilt zwischen abgemagerten Kühen, durchgerosteten Taxis und einer weißen Bus-Flotte, die für den Shuttle-Service nach Canaan zuständig ist. Die Pilgerkarawane quält sich im Schritttempo durch lehmige Erdlöcher und knietiefe braune Pfützen. Dann kippt ein Minibus zur Seite, und für eine halbe Stunde geht gar nichts mehr. Gegen neun Uhr rolle ich endlich auf den Parkplatz vor dem gigantischen pinkfarbenen Pagodenbau. Jemand klebt mir einen Sticker auf die Windschutzscheibe. "I'm a winner" steht da in Rot auf Weiß.
Als ich die Kirche betrete, rocken gerade mehr als 50 000 Gläubige zu den Takten eines gitarrenlastigen Gospel-Medleys. Dann betritt der Vorbeter des Vorbeters die sternförmige Bühne und verliest das Angebot themenbezogener Merchandising-Artikel. Es gibt blaue und weiße T-Shirts mit Polo-Kragen für 750 Naira, was fünf Euro entspricht. Die Version mit runder Halskrause ist für 500 Naira erhältlich. "Advertise Jesus!", Werbe für Jesus, ruft der Prediger ins Ansteckmikrofon an seinem Designer-Anzug. Die Bibeln meiner Banknachbarn sind mit Stickern beklebt. "I'm a winner".
Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ist Nigeria der religiöseste Staat der Erde. 99 Prozent der 140 Millionen Einwohner bezeichnen sich als gläubig, 92 Prozent sogar als tiefgläubig - unabhängig davon, ob sie im islamischen Norden oder im christlichen Süden wohnen. Im ganzen Land blüht ein spiritueller Markt aus privatwirtschaftlichen Gotteshäusern, Glaubensrichtungen, Fernsehpredigern. Den größten Zulauf verzeichnet die christlich-charismatisch orientierte Pfingstgemeinde, zu der auch die Winner's Chapel gehört. Sie besitzt einen Flugplatz, eine hauseigene Druckerei, Schulen und Universitäten, und sie vertreibt sogar ein eigenes Mineralwasser. Ihre Mitglieder beten nicht nur zu Gott, sie handeln auch mit ihm. Kern ihres Glaubens ist die Überzeugung, dass sich die Erwähltheit eines Menschen an seinem Wohlstand ablesen lässt. Nirgendwo sind sich Gott und Geld so nahe wie hier.
Die Messdiener in der Winner's Chapel verteilen jetzt weiße Umschläge mit aufgedrucktem Kirchenlogo. Die Geldscheine kommen ins Kuvert, der Name des Spenders außen drauf. Mein Sitznachbar erzählt, dass er 300 Naira in den Umschlag gesteckt hat. Das sei hier Standard. Wenn das stimmt, dann streicht die Kirche durch diese Sammelaktion gut 100 000 Euro pro Woche ein. Wer dieses Geld bekommt, frage ich. Das ist für Gott, sagt mein Sitznachbar.
Nach einer weiteren kollektiven Tanzeinlage betritt der Unternehmer, Multimillionär und Bischof David Oyedepo das Podium. „Gehorsam ist der wichtigste Schlüssel zur Welt der Seligen“, hallt es aus den gigantischen Boxensystemen, die wie geschlagene Sünder kopfüber von der Decke hängen. Wieder und wieder höre ich: "You shall serve - he shall bless." Bischof Oyedepo gibt mit holziger Stimme den Takt vor, und 50 000 Gläubige stimmen tranceartig ein. Du wirst gehorchen, er wird segnen, das muss so etwas wie der Zentralschlüssel zum Reich der Seligen sein.
Während das Christentum in Europa seine besten Tage wohl hinter sich hat, scheint es in Westafrika gerade richtig aufzublühen. In Nigeria hat sich der christliche Glaube überhaupt erst seit der Unabhängigkeit des Landes 1960 im großen Stil ausgebreitet. Zunächst bestimmten traditionelle katholische und evangelische Missionare das Bild. Inzwischen gibt die Pfingstbewegung dem Christentum im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas einen zweiten Schub und bedroht gleichzeitig die etablierten Kirchen.
Von den rund 56 Millionen Christen leben 18 Prozent in der Überzeugung, dass es keine Zufälle im Leben gibt, Gott unmittelbar erfahrbar und bezahlbar ist und folglich auch nur derjenige in den Himmel kommt, der rechtzeitig eine Eintrittskarte erwirbt. Theologen erklären die Anziehungskraft der Pfingstkirchen mit ihren okkultischen Parallelen zu traditionellen afrikanischen Naturreligionen, mit ihrem Entertainment-Charakter und dem Versprechen auf eine konkrete Erfahrung mit Gott.
Am konkretesten formuliert dieses Versprechen Bischof Oyedepos härtester Marktkonkurrent, der selbst ernannte Prophet TB Joshua. Auf der Webseite seiner Synagogue Church of All Nations kann man auf ein Menü klicken, das zu den Unterpunkten „HIV-AIDS-Heilung“, „Krebsheilung“ und „Baby-Wunder“ führt. Unter der Überschrift „Prophezeiungen“ finden sich 22 Attentate, Konflikte und Naturkatastrophen aus aller Welt, die der Prophet angeblich in seiner Sonntagspredigt angekündigt hat. Darunter der Terroranschlag von Bangkok, die Ermordung von 300 Muslimen in Jos und die Notlandung einer Boeing 747 in Manila. Unter der Rubrik „Wie kommen Sie zu uns?“, finden sich nach Krankheiten sortierte Online-Formulare, mit denen man sich zur Wunderheilung anmelden kann. Da ich Brillenträger bin, fülle ich ein Augen-Problem-Formular aus. Es vergehen drei Wochen, bis ich eine Antwort erhalte: „Hallo im Namen Jesu, bitte teilen Sie uns mit, wann Sie unsere Kirche besuchen möchten.“
Zwei Tage später warte ich um 12 Uhr mittags an der Pforte zu einem verschnörkelten Prunkbau, der mitten in einem Armenviertel steht. Ein junger, pickeliger, barfüßiger Engländer holt mich ab. Er sagt, er heiße Chris und sei mein "connecting agent", mein Verbindungsmann.
Chris führt mich ins Innere des Tempels, in dem sich neben einem bunt geschmückten Kirchenschiff Zimmer und Apartments für 500 Besucher befinden, dazu Fernseh- und Tonstudios, ein Großraumbüro für die Presseabteilung und ein Supermarkt mit Bistro-Ecke. Chris bittet mich, dort Platz zu nehmen. In fünf Minuten sei er wieder da. Es werden anderthalb Stunden.
In den Regalen des Marktes gibt es Arche-Noah-Bilderbücher, Cornflakes, Rasierschaum, WC-Steine, TB-Joshua-Poster und Kekse. An der Wand hängt ein Flachbildfernseher, in dem jener Kirchensender läuft, der rund um die Uhr im nigerianischen Fernsehen zu empfangen ist. Gerade bringt TB Joshua Rollstuhlfahrer zum Tanzen, erweckt Halbtote zum Leben und treibt einer Aids-Kranken per Handauflegung den Teufel aus.
In der folgenden Sendung besuchen zwei Reporter einen bettlägerigen Greis. Der Greis sagt, er sei 200 Jahre alt, es gehe ihm schlecht, er sei arm und alleine. Da schenken ihm die Reporter einen Sack Reis und 1000 Dollar - mit besten Grüßen vom Propheten. „Ich bete für das Fernseh-Team und seine Partner“, ruft der Greis.
Chris kommt zurück. Er sagt, TB Joshua habe einem Interview zugestimmt. Ich müsse mich allerdings noch ein klein wenig gedulden. „Der Prophet ist noch auf dem Berg“, erklärt Chris. Auf dem Berg? In Lagos gibt es keine Berge, die Stadt ist flach wie ein Tisch. Chris lächelt: „Oh, es handelt sich dabei natürlich nicht um einen physischen Berg, sondern um eine Art spirituellen Gebetsberg.“
Dann verschwindet Chris wieder, und ich verbringe weitere fünf Stunden vor dem Wunder-TV, sehe unfruchtbare Frauen vor dem Altar Kinder gebären und verhexte Mädchen lebendige Würmer auskotzen, bis TB Joshua gegen neunzehn Uhr endlich seinen imaginären Gebetsberg verlassen hat und zur Audienz bittet.
Chris führt mich in ein kleines Büro mit drei Fernsehgeräten, neun Telefonen, einer Tennistasche und einem elektrischen Hähnchenröster. Über dem Schreibtischstuhl hängt eine Urkunde, die TB Joshua als den Gewinner des Teufelsbezwingerwettbewerbs 1999 ausweist. Ein Kirchenfernsehteam baut sich vor mir auf und beginnt, mich beim Warten zu filmen. Nach weiteren zehn Minuten hüpft der Prophet in den Raum. Er trägt eine abgewetzte blaue Trainingshose und ist barfuß. „Schön dass Sie hier sind. Was kann ich für Sie tun?“
TB Joshua hat eine sanfte, fast eunuchenhafte Stimme, die sich im Rhythmus seiner Satzbetonungen überschlägt. Ich will wissen, wann er entschieden hat, Prophet zu werden.
„Das war niemals mein Wille. Es ist Gott, der seine Propheten aussucht“, sagt der Prophet. „Die Straße zum Thron des Propheten ist voller Dornen, Schlangen und Skorpione. Niemand kann das entscheiden, außer Gott.“ Während ich die Antwort in meinen Block schreibe, klopft TB Joshua hektisch mit einem Bleistift auf die Tischplatte. Tok, Tok. „Noch was? Wollen Sie noch etwas wissen?“ Tok, Tok, Tok.
Ich frage nach dem genauen Verfahren einer Wunderheilung, nach seinen konkreten Visionen für die Prophezeiungen von Flugzeugabstürzen und nach den wichtigsten Katastrophen der kommenden Woche, muss aber feststellen, dass der Prophet immer wieder dieselbe Antwort gibt, ganz egal, welche Frage ich stelle. „Das sind nicht meine Taten, sondern die Taten Gottes. Ich bin nur ein Werkzeug im Hause Gottes.“ Tok, Tok, Tok.
Nur ein einziges Mal verlässt TB Joshua sein gewohntes Argumentationsschema - bei der Frage, was man tun kann, um in einem von Aids gezeichneten Land wie Nigeria einer HIV-Infizierung vorzubeugen: „Wir sind durch Gottes Herrlichkeit. Und Gottes Herrlichkeit kann niemals korrumpiert werden. Wir müssen vor der Korruption wegrennen. Wir sind durch Gottes Herrlichkeit. Und Gottes Herrlichkeit kann niemals korrumpiert werden. Gottes Herrlichkeit kann niemals korrumpiert werden, denn wir sind durch Gottes Herrlichkeit.“
Ich unternehme einen letzten Versuch, etwas Konkretes zu erfahren. Ich frage, wie er den Bau der riesigen Kirche finanziert hat. Da ist das Gespräch schlagartig beendet. Der Prophet schüttelt meine Hand und sagt: „Ich habe gehört, Sie fliegen am kommenden Freitag wieder nach Deutschland. Guten Flug.“
Ich fahre zurück in mein Hotel und sehe sofort nach, auf welchen Tag mein Flugticket ausgestellt ist.
Es ist ein Sonntag.
veröffentlicht am 22.12.2008 in der Berliner Zeitung.