Lagos

Lagos, 20.12.2008:
„Ja, es gibt ein Leben nach dem Fußball“

 © Jay Jay OkochaJay Jay Okocha über seine Tätigkeit als Nachtlokalbesitzer, den Stand des afrikanischen Fußballs und die ewige Wut des Oliver Kahn.

Sie dürften einer der populärsten Fußballer Afrikas aller Zeiten sein. Nachdem Sie nun jahrelang im Licht der Öffentlichkeit gestanden haben: Wie ist Ihr Leben danach?

Es macht Spaß. Ich hatte mir für meine Rückkehr nach Nigeria viel vorgenommen. Ich wusste, was auf mich zukommt. Und das hat mir sehr geholfen. Aber gleichzeitig fehlt mir der Fußball noch. Manchmal vergesse ich immer noch, dass ich nicht zum Training muss. Wenn ich spät abends noch etwas esse oder wenn ich etwas trinken möchte, habe ich immer noch im Kopf, dass das nicht geht – weil am nächsten Morgen Training ist. Das kommt ab und zu noch vor. Aber ich genieße es, dass meine aktive Laufbahn vorbei ist, da ich mein Programm jetzt selbst gestalten kann. Wenn ich müde bin, ruhe ich mich aus. Als ich noch spielte, war das anders. Wissen Sie, als Spieler stellt man keine Regeln auf. Man befolgt Regeln. Heute bestimme ich meine Regeln selbst.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist die ‚Bar Number Ten’, in der wir hier gerade sitzen, Teil eines Masterplans, den Sie schon lange im Kopf hatten. Was beinhaltet dieser Masterplan noch?

Mein Unternehmen fertigt Sicherheitssysteme für Türen wie hier unten am Eingang. Wir fertigen allerlei technische Vorrichtungen. Wir verlagern unsere Schwerpunkte, sind im Immobiliengeschäft tätig, aber wir sind ein junges Unternehmen, das noch im Reifeprozess ist. Für mich ist diese Bar eine Art Showbühne, wo man nach der Arbeit Spaß haben kann. Wo man sich einfach hinsetzt, entspannt, etwas mit Freunden isst und trinkt, bevor man nach Hause geht. Eigentlich sollte es ein Restaurant werden, keine Bar. Aber irgendwie ist dann ein Nachtlokal daraus geworden, ohne dass ich es verhindern konnte. Sie wissen ja, wie die Leute sind. Man kann ihnen nicht verbieten, Spaß zu haben. Am Anfang habe ich gesagt, okay, wir schließen um ein oder zwei Uhr nachts. Aber mal ehrlich. Da geht es doch erst richtig los.

In Deutschland sind Sie immer noch ziemlich bekannt, ich kann mir also ausmalen, wie es hier in Nigeria aussieht. Ist es hier in Lagos einfach, ein normales Leben zu führen?

Nein, das ist es nicht. Es ist ziemlich schwierig. Aber ich denke, das ist der Preis, den ich zahlen muss. Alles hat seine zwei Seiten.

Einige nigerianische Fußballfans haben mir gesagt, dass sie sehr überrascht waren, als Sie diesen Sommer aufgehört haben. War das ein spontaner Entschluss?

Wissen Sie, wenn die Leute deine Spielweise mögen, dann wollen sie den Tatsachen nicht ins Auge blicken. Sie möchten nicht, dass du aufhörst, weil sie dich immer noch draußen auf dem Platz sehen möchten. Was mich angeht: Ich habe das geplant. Als ich von England nach Katar ging, war die Sache für mich gelaufen. Ich wollte meine Laufbahn dort beenden. Aber als ich dann zurückging und für Hull spielte, dachten die Fans wohl, ich hätte mir das mit dem Ende meiner Laufbahn anders überlegt. Vor allem als wir aus der 2. Liga in die Premier League aufstiegen. Aber für mich war das genau der richtige Zeitpunkt, um aufzuhören. Als ich merkte, dass meine Leistung etwas nachließ, dachte ich mir: vielleicht ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, um Schluss zu machen. Ich möchte nicht zu viel wollen und ich hasse halbe Sachen. Ich wollte schon immer bei allem, was ich tue, unter den Besten sein.

Ist der Kick eines Nachtclubs mit dem Nervenkitzel im Flutlicht des Stadions zu vergleichen?

Fußball war mein Beruf. Früher habe ich Fußball gegessen, geschlafen und getrunken. Für mich gab es nichts Besseres, als während der Woche hart zu arbeiten und dann am Samstag vor 50.000 Zuschauern das Ergebnis meiner Arbeit zu zeigen. Ich mochte natürlich auch die Reaktion des Publikums, wenn ich etwas gut gemacht hatte. Das ist ein besonderer Ansporn, wenn man merkt, dass die Menschen die Leistung, die man bringt, würdigen. Aber mit dem Kick im Nachtleben ist das natürlich nicht zu vergleichen. In den Nachtclub gehe ich, um mich nach der Arbeit zu vergnügen, Fußball war damals meine Arbeit.

Sie haben viele Jahre Ihrer Laufbahn in Deutschland, Frankreich, England, Katar verbracht. Warum sind Sie nach Nigeria zurückgekehrt?

Am Anfang war gar nicht so klar, dass ich zurückkehren würde. Ich habe Nigeria im Alter von 17 Jahren verlassen und mein erster Anlaufpunkt war damals Deutschland. Für mich ist es immer noch so, als sei ich in Deutschland aufgewachsen. Als wäre ich dort zur Schule gegangen, weil ich dort gelernt habe, wie man Profifußballer wird. Das hat mir während meiner gesamten Karriere sehr geholfen. Aber nachdem ich dann fast die ganze Welt gesehen habe, war mir klar, dass es keinen besseren Ort als Zuhause gibt. Auch dann nicht, wenn das Zuhause nicht die besten Voraussetzungen bietet. Am Ende meiner Karriere war mir klar, dass ich zurückkehren muss. Dass ich meine Landsleute nicht im Stich lassen kann. Ich kann meine Heimat nicht links liegen lassen, nur weil es sich dort nicht so bequem leben lässt wie in Europa oder in Amerika. Ich habe mir gesagt: wenn wir alle immer nur davonlaufen, wer wird dann dafür sorgen, dass sich etwas ändert?

Was mögen Sie an Lagos?

Lagos ist eine besondere Stadt. Sie wirkt chaotisch, es scheint unmöglich, hier überhaupt leben zu können. Aber wenn man erst einmal herausgefunden hat, wann man das Haus verlassen bzw. nach Hause zurückkehren kann, um den ganzen Verkehr aus dem Weg zu gehen, denke ich, dass es auf der ganzen Welt keinen Ort gibt, der die gleichen Möglichkeiten bietet wie Lagos. Fast alles, was man anfasst, wird hier zu Gold – man muss es nur richtig anfassen. Ich nenne es das Land der Möglichkeiten. Man muss sich nur mit dem Chaos arrangieren.

Wie sind Sie aus diesem großen Chaos im Alter von 17 Jahren in die kleine deutsche Stadt Neunkirchen gelangt?

Per Zufall. Ich habe dort einen Freund meines Bruders besucht und gedacht, es bleibt dabei. Ein Besuch, mehr nicht. Nachdem ich aber mit ihm zum Training gegangen war, fragte mich der Trainer, ob ich wiederkommen könne. Und das habe ich gemacht. Der Rest ist bekannt.

Was waren Ihre ersten Eindrücke von Neunkirchen?

Am Anfang war es nicht einfach. Ich hatte Heimweh. Ich hatte nicht viele Freunde dort. Allerdings hatte ich das Glück, jemanden zu finden, der mir sehr geholfen hat. Er hieß Till Brix. Er behandelte mich wie seinen Sohn und gab mir irgendwie das Gefühl, zu Hause zu sein. Danach war es viel einfacher.

Haben Sie noch viele Freunde aus der Zeit, in der Sie mit der Eintracht Frankfurt die Bundesliga eroberten?

Nun, Sie wissen ja, wie das so geht. Ich habe in fünf verschiedenen Ländern gespielt und es war für mich nicht ganz einfach, die Kontakte zu pflegen, da alle so beschäftigt sind. Aber ab und zu spreche ich noch mit einigen Leuten. Und nach wie vor habe ich natürlich noch sehr engen Kontakt mit Anthony Yeboah.

Die Eintracht war Anfang der 90er eine fantastische Mannschaft. Sie brachte damals einen neuen Geist in die Bundesliga, die Idee, dass Kunst und Fußball sich nicht widersprechen.

Genau. Für mich ist Fußball Unterhaltung. Und manchmal konnte ich nicht verstehen, warum die Leute den Fußball so ernst nahmen, und dass sie sich auf ihr Spiel so vorbereiteten, als zögen sie in den Krieg. Ich sage nicht, dass man das Spiel nicht ernst nehmen soll. Aber letztlich darf man nicht vergessen, dass es dabei um Gewinnen und Verlieren geht. Es gibt gute Tage und schlechte Tage. Ganz egal, wie ernst man es nimmt, alles kann man nie gewinnen. Am Anfang konnte ich diesen deutschen Fußball überhaupt nicht verstehen. Später ist mir klar geworden: wenn man sich außerhalb des Platzes gut vorbereitet, kann man das später auf dem Platz einbringen. Diese Dinge musste ich erst einmal lernen. Andererseits lernte das Publikum dort auf einmal, es zu bewundern, wenn Anthony und ich ab und zu unsere eigene Mentalität auf dem Platz zeigen konnten, unseren eigenen Geist und unsere Sichtweise der Dinge.

Einer der Momente, an den Deutschland sich immer erinnern wird, war das Tor des Jahres, das Sie 1993 gegen Oliver Kahn erzielten. War das auch für Sie ein besonderer Moment?

Das war und ist auch heute noch ein besonderer Moment für mich. Ich kann mich noch daran erinnern, was mir [Klaus] Toppmöller [1993 Cheftrainer von Eintracht Frankfurt] nach dem Spiel sagte. Ich hatte bei dem Spiel auf der Bank gesessen und war erst wenige Minuten vor dem Tor eingewechselt worden. Später am Abend sagte Toppmöller, dass ich wahrscheinlich nie wieder eingesetzt worden wäre, wenn ich den Treffer nicht erzielt hätte. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht vorhatte, den Ball so lange zu behalten. So wie ich es auf dem Platz mitbekam, hatte ich einfach keine gute Möglichkeit, ihn abzugeben. Ich habe abgewartet, gedribbelt und fast die Orientierung verloren. Letztlich ist es mir aber gelungen, den Ball so lange zu behalten, bis ich diese kleine Lücke fand, nach der ich suchte, direkt zwischen dem Pfosten und Oliver Kahn. Es ist und bleibt ein besonderes Tor.

Haben Sie je mit Oliver Kahn darüber gesprochen?

Nein, nein, nein. Sie wissen, wie er ist. Mir war immer klar, dass ich dieses Tor in seiner Gegenwart besser nicht erwähne, damit er sich nicht ärgert. Ich glaube, dass er mir das immer noch übel nimmt. Aber Sie wissen ja, danach ist er einer der besten Torhüter der Welt geworden.

Wie ist der Stand der Dinge im afrikanischen Fußball? Hat er sich kontinuierlich verbessert?

Eigentlich nicht. Wir haben eine Stufe erreicht, auf der wir stehen geblieben sind. Eine bestimmte Hürde konnten wir nicht nehmen. Der größte Erfolg, der uns bei einer Weltmeisterschaft bislang gelungen ist, war das Viertelfinale. Kein Team hat es bisher weiter geschafft. Ja, ich muss zugeben, dass wir als Fußballkontinent irgendwie stehen geblieben sind. Einzelne afrikanische Fußballer haben sich allerdings deutlich weiterentwickelt. Wie Sie vielleicht wissen, sind wir in fast allen Spitzenclubs der Welt vertreten und sind dort auch erfolgreich. Aber als Nation steht Nigeria meiner Meinung nach im Fußball nicht dort, wo es stehen sollte.

Als Sie 1996 in Atlanta mit den Super Eagles die Goldmedaille gewannen, schien dies das Versprechen zu sein, dass es nach wenigen Jahren auch einen afrikanischen Weltmeister geben würde. Sprechen wir, wenn wir von Ihrer Generation sprechen, von einer verlorenen Generation?

Das denke ich nicht. Weil Nigeria weiterhin Talente hervorgebracht hat. Unser Hauptproblem besteht darin, dass wir keine langfristige Struktur haben. Wir leben so, als fände unser Leben nur heute statt. Wir haben keinen Plan für die kommenden acht oder zwölf Jahre. Wir denken immer, dass die nächste Weltmeisterschaft unsere Weltmeisterschaft sein könnte, aber letztlich gewinnen wir sie nie. Dieser Mangel an einem umfassenden Programm setzt uns in Nigeria stark zu.

In anderen Ländern werden ehemalige Fußballstars nach ihrer aktiven Laufbahn oft Nationaltrainer. Zum Beispiel Maradona, Donadoni oder Klinsmann. Irgendwelche Überlegungen in diese Richtung?

Im Augenblick würde ich sagen, nein. Weil der Trainer keinen einfachen Job hat. Ich selbst habe keinen Trainerschein, und vielleicht ist das angesichts meines Charakters auch keine gute Idee. Ich stelle hohe Ansprüche. Es könnte schon noch passieren, man weiß ja nie. Aber im Augenblick kann ich mir nicht vorstellen, Nationaltrainer zu werden. Lieber würde ich in anderer Form etwas zurückgeben, vor allem an Jugendliche. Denn wie man Profifußballer wird, das hat uns zu meiner Zeit keiner gesagt. Und natürlich möchte ich vermitteln, dass man immer daran denken sollte, dass es ein Leben nach dem Fußball gibt. Vielleicht ist das sogar der wichtigste Abschnitt im Leben eines Fußballers. Aber für mich wäre das eher wie ein Hobby, da ich meine derzeitige Tätigkeit und die großen Herausforderungen, die damit verbunden sind, sehr mag.

Warum sind deutsche Trainer wie Winnie Schäfer, Otto Pfister oder Berti Vogts in Afrika nie richtig glücklich geworden?

Ich glaube, dass sie ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht haben, um zu wissen, was sie erwartet: das Umfeld, die Leute, mit denen sie arbeiten, das Verständnis professioneller Arbeit. Und da sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, ist es ihnen nicht gelungen, kontinuierlich das Meiste aus ihren Spielern herauszuholen. Der Umgang mit afrikanischen Spielern und insbesondere auch mit dem Verband funktioniert anders als in Deutschland. Die Unterschiede sind zu groß. Und wenn man hierher kommt, ohne zu wissen, was einen erwartet, hat man ein großes Problem.

Worin bestehen die Unterschiede genau?

Ich denke, ihr Hauptproblem lag wohl in der Zusammenarbeit mit dem Verband. Denn in Deutschland ist alles gut strukturiert. Jeder weiß, was er zu tun hat. Man muss sich nicht um die Aufgaben anderer kümmern. Man konzentriert sich einfach auf seine Spieler und überlegt sich, wie man das Meiste aus ihnen herausholt. Hier muss man hingegen sogar noch deren Verwaltungsaufgaben erledigen. Man muss ihnen beibringen, was sie zu tun haben, weil sie es nicht wissen. Im Verband glaubt man, dass Leute wie Schäfer oder Vogts alles sofort umstrukturieren könnten. Aber meiner Ansicht nach ist es für sie unmöglich, so zu arbeiten.

Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass die nächste Weltmeisterschaft in Afrika stattfindet?

Das ist für Afrika im Allgemeinen eine tolle Sache. Viele Menschen haben immer noch merkwürdige Vorstellungen von Afrika, ohne den Kontinent überhaupt zu kennen. Sie denken dabei an den Busch, die Wüste, Löwen und Krankheit. Für mich bietet diese Weltmeisterschaft die Chance, dass die Menschen kommen und sehen, dass Afrika auch viele gute Seiten hat, dass Afrika ein einzigartiger Kontinent ist. Es gibt so viele Dinge, die die Menschen aus der ganzen Welt über Afrika erfahren sollten. Und hierdurch haben wir die Chance, diesen Aufklärungsprozess zu beschleunigen. Es wird eine sehr bunte Weltmeisterschaft werden.

Boris Herrmann,
veröffentlicht am 20.12.2008 in This Day.

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