Lagos

Lagos, 13.12.2008: Lagos in 48 Stunden

 © Lagos, Foto: Kunle-Ogunfuyi

Eine große deutsche Boulevardzeitung hat Lagos vor einigen Tagen als „Hölle auf Erden“ bezeichnet, in der Weiße angeblich Nacht für Nacht von einem wütenden Mob ausgeraubt und ermordet werden. Nun, ich will die Armut, den Schmutz und die Gewalt in dieser Stadt nicht romantisieren, aber so weit ich mitbekommen habe, bin ich seit meiner Ankunft vor gut drei Wochen weder ausgeraubt noch ermordet worden. Der Satz „Lagos ist die Hölle auf Erden“ sagt mehr über die Qualität deutscher Boulevardzeitungen als über die Wirklichkeiten in dieser Stadt aus.

Es geht in Lagos niemals darum, was man sehen kann. Es geht immer darum, was man sehen will. Besucher, die gewillt sind, diesen Ort zu verstehen, spült ein einziges Wochenende durch unzählige verschiedene Großstadtwelten, durch Stadtviertel aus Müll und Brackwasser, über Märkte für Voodoo-Bedarf, Straßenbordelle und aufgeweichte Lehmstraßen hinweg, entlang von Spalier stehenden Polizisten mit geladenen Kalaschnikows, die sich etwas Kleingeld für ihre Weihnachtseinkäufe hinzu verdienen, bis hinein in rauschende Champagner-Orgien, gigantische Kirchen, wunderbare Konzertsäle und ganz entspannte Strandpromenaden. Was man als Fremder an einem einzigen Wochenende in Lagos zu sehen bekommt, reicht für mehrere abendfüllende Spielfilme. Lagos ist Dauerkino.

Freitag, 24 Uhr

Meine Entdeckungsreise durch die unwirklichen Wirklichkeiten von Lagos beginnt am Freitagabend in der Bar Number Ten im Stadtteil Victoria Island. Damit keine Missverständnisse aufkommen, ist der Name des Besitzers mit goldenen Buchstaben über die Eingangspforte graviert: Jay Jay Okocha. Der wohl unterhaltsamste Fußballer, den Afrika jemals hervor gebracht hat, sorgt weiterhin für gute Laune – nur eben auf andere Weise. Von außen sieht Okochas Nachtklub aus wie ein Mausoleum für einen Lebendigen. Wer die Hochsicherheitstür passiert hat, findet sich allerdings in einer von stilvollen Blütentapeten dominierten Bar wieder, die auch in Brooklyn, Lavapies oder Kreuzberg stehen könnte.

Im Number Ten begießt die junge nigerianische Elite den Beginn des Wochenendes. Diese Elite aus Künstlern, Werbern und Unternehmensberatern ist immerhin so zahlreich, dass schon gegen Mitternacht kein Sektkelch mehr zu Boden fallen kann – dafür ist das Gedränge zu groß. Im Minutentakt wandern dickbauchige Champagnerflaschen über die Köpfe hinweg und verwinden hinter einer schwarzen Schwingtür mit Bullauge, die alle Günstlinge Okochas von den besonderen Günstlingen Okochas trennt.

Die ehemalige Nummer Zehn hat sich direkt hinter der Schwingtür eine samtene Couchecke eingerichtet. Eine Art Vip-Bereich im Vip-Bereich. Okocha nippt an einer vergoldeten Champagnerflasche. Ich stelle mich als Sportjournalist aus Deutschland vor. „Hallo, wie geht’s“, sagt Jay Jay Okocha. Er lächelt höflich, wir verabreden uns für die kommende Woche zu einem Interview. Dann zieht er sich wieder auf seine Couch zurück und schaut zu, wie sich seine Gäste auf seine Kosten amüsieren. Ich kann mir nicht helfen, aber inmitten dieser ineinander geschlungenen, hüpfenden und schwitzenden Körper, sieht Nigerias größter Fußballheld irgendwie einsam aus. Lagos ist ein unsichtbares Großstadtgefühl.

Samstag, 13 Uhr

Am nächsten Morgen beginnt das Kontrastprogramm. Der 32-jährige Tontechniker, Gitarrist und Hobby-Autor Abiodun nimmt mich mit auf eine Reise in seine Vergangenheit. Heute wohnt und arbeitet Abiodun auf der wohlhabenden Seite von Ikoyi. Er muss sich mit einfachen Hilfsjobs über Wasser halten, aber er hält sich über Wasser. Aufgewachsen ist er im Timberland Ghetto, einem der letzten vergessenen Slums dieses Stadtteils. Timberland ist nicht nur im übertragenen Sinn eine Sackgasse. Es hat nur einen Eingang, den am Ende eines staubigen Feldweges hinter einer grauen Mauer versteckt ist. Durch einen kaum drei Meter breiten Schlauch aus einsturzgefährdeten Wellblechhütten mäandert ein schwarz blubbernder Bach, der Wasserzufuhr und Kanalisation in einem ist. An diesem Samstag, es ist der letzte Samstag im Monat, glimmen kleine Schlackeberge am Ufer vor sich hin. Es ist Umwelttag in Lagos. Die Bevölkerung ist dazu aufgerufen, ihre Autos stehen zu lassen und ihre Häuser zu putzen. Selbstredend besitzt im Timberland-Ghetto niemand ein Auto, das er stehen lassen könnte. Also wird wenigstens das staatlich verordnete Putzen ernst genommen. Die Menschen in Timberland fischen Blechdosen, Ölkanister und angefaulte Schuhe aus dem süßlich riechenden Kanal. Dann zünden sie alles an, weil hier keine Müllabfuhr vorbei kommt, um den Unrat abzuholen.

In der geografischen Mitte von Timberland steht ein alter Freiluft-Billardtisch. Ein Freund von Abiodun bringt uns zwei leidlich gekühlte Guinness-Flaschen. Wir setzten uns auf einen Steinklotz im Schatten eines rostigen Daches und schauen den Ghetto-Kids beim Poolen zu. Abiodun sagt, es sei absurd für ihn, hier als Besucher zu sitzen, hier wo er immer noch Familie, Freunde und Verwandte hat. Er wuchs in einer Kaserne auf und kam im Alter von zwölf Jahren nach Timberland. Als Abioduns Vater aus Altersgründen seinen Dienst beim Militär quittierte, konnte er seinen vier Kindern kein Leben im Mittelstand mehr bieten. Also packte die Familie ihre Sachen und zog gemeinsam in den Slum. „Von einem Tag auf den anderen ging es in meinem Leben nicht mehr um Schule, Zukunft und Ausbildung, sondern nur noch ums Überleben“, sagt Abiodun. Die Musik hat ihn vor drei Jahren wieder zurück in ein befestigtes Haus an einer befestigten Straße gebracht – nach 14 Jahren ohne Strom, fließend Wasser oder Fensterscheiben. Lagos ist eine Sackgasse mit Notausgang.

Samstag 19 Uhr

Zwischen Okochas Bar und dem Timberland-Ghetto liegen allenfalls fünf Kilometer Luftlinie. Und doch könnten sich nicht weiter voreinander entfernt sein. Deshalb ist es auch so wichtig, in Lagos die Brüder Chike und Azu Nwagbogu zu kennen. Sie sind Mittler zwischen der Okocha- und Timberland-Welt. Sie vertreiben Kunst, veranstalten Konzerte, betreiben ein Hotel und eine Galerie, treffen Schriftsteller zum Tee und Celebrities zum Gin Tonic – sie spielen aber auch Rugball am Strand, fördern die Area-Boys in ihrer Nachbarschaft und verstehen die Sprache der Vorstadtkids.

Jeden Samstag veranstalten die Nwagbogus ein Abendessen, bei dem große Fische gegrillt werden, Palmwein fließt und eine geladene Gruppe von zehn bis zwanzig Gäste aller Bildungs- und Einkommensniveaus über den Lauf der Welt berät. Meistens gibt es ein vorher abgesprochenes Diskussionsthema und weil nach nigerianischer Theorie der Lauf Welt erst so richtig beginnt, wenn er aus europäischer Sicht bereits zu Ende ist, geht es meistens um Religion, Transzendenz und das Jenseits. Diskussionsabend ist vielleicht das falsche Wort für diese wunderbar skurrile Veranstaltung, weil es doch einen relativ geordneten Gesprächsverlauf suggeriert. In Wahrheit wird bei diesen Abendessen zwei Stunden lang wild und laut durcheinander argumentiert, werden Götter beschwört, Kapitalisten verwunschen, Sünden begossen. Priester, Propheten, Tod und Teufel kommen hier zu ihrem Recht und das einzige Mal, da am vergangenen Samstag Stille am Tisch herrschte, war der Moment, als ich die Vermutung äußerte, dass immerhin die Möglichkeit bestünde, dass es gar kein Leben nach dem Tod geben könnte. Lagos ist eine spirituelle Wundertüte.

Sonntag, 2 Uhr

Seun Kuti ist der jüngste Sohn des 1997 verstorbenen Afrobeat-Erfinders Fela Kuti. Er stand bereits mit der sagenumwobenen Band Egypt 80 auf der Bühne, als er gerade einmal acht Jahre alt war. Seit dem Tod seines Vaters trägt Seun das Erbe der größten Musiklegende Nigerias weiter. Und man kann wohl sagen, er trägt daran nicht immer leicht. Ein Konzert eines der Kuti-Söhne auszulassen ist in Lagos in etwa so verpönt, wie die Existenz des Jenseits in Frage zu stellen.

Wir erreichen den African-Shrine in den frühen Morgenstunden. Azu Nwagbogu führt mich ohne Umwege durch die große Konzerthalle in den Backstage-Bereich, wo Seun Kuti auf einer gelblichen Matratze sitzt und ein goldenes Saxophon einspielt. Kuti trägt einen Ganzkörperanzug im Leopardenmuster-Design, dem man zumindest nicht nachsagen kann, er würde nicht zu seinen Schuhen im Leopardenmuster-Design passen. Wir reden über Berlin, über meine Erfahrungen in der Redaktion von This Day und, natürlich, über Gott und Religion. Nach und nach füllt sich das Backstage-Zimmer mit allerhand Leuten, die der Musiker offenbar alle zum ersten Mal trifft. „Hallo, wie geht’s?...Wo kommst du her?...oh!....ach?....interessant...“ Nach einer halben Stunde ist Seun Kuti plötzlich ohne sich zu verabschieden verschwunden. Jemand bemerkt, dass das Saxophon auch weg ist.

Als die zurück gelassene Backstage-Meute den großen Saal erreicht, ist das Konzert bereits voll im Gange. Kuti wird von gut 20 Trompetern, Schlagzeugern, Percussionisten, Bassisten und Tänzerinnen unterstützt. Einige Zuschauer tanzen vor der Bühne, die meisten sitzen in weißen Plastikstühlen an weißen Plastiktischen und verfolgen das Geschehen regungslos. Es ist die leiseste Menschenmenge, die ich jemals bei einem Popkonzert gesehen habe. Aber es scheint keine Form von Desinteresse zu sein. Im Gegenteil. Etwas Heiliges liegt in der Luft. Ganz so, als ob jedes Klatschen, jedes Knistern, jedes Stuhlknattern die Götter erzürnen würde. Lagos ist Afrobeat.

Sonntag, 6.30 Uhr

Als es dämmert, fahren wir mit dem Taxi zurück über die Third-Mailand-Bridge nach Ikoyi. Es ist nicht so, dass die Stadt um diese Zeit erwachen würde. Sie hat sich gar nicht erst schlafen gelegt. Zehntausende Menschen sind bereits in weißen Bussen auf holprigem Gelände unterwegs nach Canaan-Land, um wie jeden Sonntag den größten Gottesdienst der christlichen Welt zu feiern. Ich trinke einen Kaffee im Hotel, dann fahre ich mit meinem Dienstwagen hinterher. Gegen 7 Uhr bin ich am Nordrand der Stadt angelangt und stehe wie so oft in diesen Wochen im Stau. Die Pilgerkarawane quält sich im Schritttempo durch lehmige Erdlöcher und knietiefe braune Pfützen hindurch. Als ich gegen 9 Uhr den pinkfarbenen Pagodenbau der Winner’s Church erreiche, verliest der Pfarrer vor 50.000 Gläubigen gerade das Angebot themenbezogener Merchandising-Artikel. Es gibt blaue und weiße T-Shirts mit Polo-Kragen für 750 Naira, die Version mit runder Halskrause ist sogar für 500 Naira erhältlich. „Advertise Jesus“, ruft der Prediger in das Ansteckmikrophon an seinem Designer-Anzug. Die Bibeln meiner Banknachbarn sind mit Stickern beklebt. „I’m a winner“ steht da in Rot auf Weiß.

Nach einem Gospel-Medley, das den Auftritt von Seun Kuti in Sachen Soundqualität weit in den Schatten stellt, betritt der Bischof David O. Oyedepo die Bühne. „Gehorsam ist der wichtigste Schlüssel zur Welt der Seeligen“ hallt es alsbald aus den gigantischen Boxensytemen, die wie Sünder kopfüber von der Decke hängen. Ich nehme mir die Worte zu Herzen und beschließe, mir eine offizielle Fotoerlaubnis zu besorgen, bevor ich meine Kamera auspacke. Man führt mich in einen futuristischen Kontrollraum, in dem elf Bildschirme die Predigt des Bischofs aus elf unterschiedlichen Kameraperspektiven übertragen. Man erlaubt mir, so viel zu fotografieren wie ich will, allerdings erst, wenn die gut dreistündige Messe vorbei ist. Also gehe ich an meinen Platz und versuche, in aller Eile die sieben Schlüssel zur Welt der ewigen Seligkeit abzuschreiben, die jetzt an den drei Public-Viewing-Leinwänden eingeblendet werden. Wenn ich aber nun im Nachhinein durch meinen Notizblock blättere, kann ich nur drei Mal in krakeliger Kugelschreiberschrift „You shall serve – he shall bless“ finden. Lagos ist die Kraft der Wiederholung.

Sonntag, 11 Uhr

Gegen Mittag macht sich die größte Ansammlung von Gläubigen, die ich jemals gesehen habe, auf den Nachhauseweg durch die brennende Tropensonne. Ich stehe drei Stunden im Stau und versuche, bei der Gelegenheit ein wenig von dem verpassten Schlaf der letzten 48 Stunden nachzuholen. Leider ist der Kinofilm vor meiner Windschutzscheibe mal wieder so fesselnd, dass an Schlaf nicht zu denken ist. Ich sehe Straßenverkäufer, die mir tote Nagetiere ans Fenster halten, um ihr Rattengift anzupreisen. Ich sehe zwei Menschen und zwei Ziegen auf einem Motorrad. Ich sehe eine ölige Autobrücke, auf der frisch gewaschene Hemden und Unterhosen trocknen. Und ich sehe meinen Lieblingsfilm von den abertausenden gelben VW-Bussen, deren vergilbte Schriftzüge von einer bewegten deutschen Vergangenheit zeugen: „Verkehrsschule Gladbeck“, „Elektrotechnik Poschmann-Wetzel“, „Arbeitsgemeinschaft mobile Kindergärten“.

Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff des sonntäglichen Rugball-Spiels um halb fünf am Kuramo-Beach. Rugball ist für mich schon nach kurzer Zeit in Lagos zu einem Ritual geworden. Wenn ich in Deutschland bin, schaue ich jeden Sonntag die Krimiserie „Tatort“ im Fernsehen. Wenn ich in Lagos bin, spiele ich jeden Sonntag Rugball. Als ich kurz vor zehn in mein Hotel zurück komme, finde ich Sand an Körperstellen, von denen ich bislang gar nicht wusste, dass sie existieren. Eine Dusche und ein Bett ist alles, was ich nach diesem Wochenende noch will. Leider gibt es ausgerechnet an diesem Abend ein Problem mit der Wasserversorgung. Der Mann an der Rezeption erklärt mir freundlich, dass es sich höchstens um zwei Stunden handeln könne. Lagos ist Warten für Fortgeschrittene.

Boris Herrmann,
veröffentlicht am 13.12.2008 in This Day.

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