Lagos

Lagos, 7.12.2008: Gott und Geld in Deutschland

 © Lagos, Foto: Kunle-OgunfuyiDa ich am vergangenen Sonntag gesehen habe, wie sich zehntausende bunt gekleidete Menschen gegen 4 Uhr morgens in den Straßen von Lagos versammelten; wie sie in klapprigen Bussen über Schotterwege und Lehmmulden hinweg nach Canaan-Land pilgerten; wie sie in jenem gigantischen dreischiffigen Kirchenbau namens „The Winner’s Chapel“ über Videoleinwände der Predigt des Bischof lauschten; wie sie lachten, sangen und zu Gospels tanzten; wie sie am Nachmittag im Schritttempo zurück nach Lagos rollten, stundenlang der gleißenden Tropensonne und den stinkenden Abgaswolken ausgesetzt – so bin ich geneigt zu sagen: Die christlichen Kirchen in Nigeria und Deutschland haben wenig bis gar nichts miteinander gemein.

Während in Nigeria ein spiritueller Markt aus privat organisierten Gotteshäusern, Konfessionen und Glaubensrichtungen blüht, stellt sich die Lage in Deutschland etwas übersichtlicher dar. Die beiden großen Amtskirchen (römisch-katholisch und evangelisch) bilden nach wie vor die mit Abstand größten Religionsgemeinschaften. Rund 52 von 80 Millionen Bundesbürgern sind evangelisch oder katholisch – allerdings nur auf dem Papier. Die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger katholischen Glaubens ist in den letzten zwanzig Jahren von 47 Prozent auf 16 Prozent abgesunken, in der evangelischen Kirche stagniert sie bei etwa vier Prozent. Im Alltag vieler junger Menschen in Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt steht ein sonntäglicher Kirchenbesuch nicht einmal zu Debatte. Und selbst auf dem Land bestimmen zunehmend leere Kirchenbänke das Bild. Häufig gibt es nur noch einen Pfarrer für mehrere Dörfer - die Nachfrage ist zu gering.

Es würde zu weit führen, hier zu erörtern, weshalb die Menschen in Nigeria offenbar immer religiöser werden, während sich viele Deutschen von den Kirchen abwenden. Interessant ist aber, dass beide Entwicklungen ähnliche Fragen aufwerfen. Wenn derzeit in Nigeria darüber diskutiert wird, ob die Kirchen angesichts ihrer wirtschaftlichen Nebenaktivitäten weiterhin das Privileg der Steuerbefreiung genießen sollten, erinnert das stark an jene Debatten, die auch in Deutschland geführt werden.

Auch in der Bundesrepublik gewährt der Staat den Kirchen große Privilegien. Sie sind nicht nur von der Körperschaftssteuer und der Grundsteuer befreit, sie nehmen von ihren 52 Millionen Mitgliedern jährlich auch rund acht Milliarden Euro an Steuern ein. Neun Prozent des Monatslohns gehen direkt an die Kirchen. Das renommierte Nachrichtenmagazin Der Spiegel schätzte das Vermögen der Amtskirchen in Deutschland um die Jahrtausendwende auf rund 500 Milliarden Euro. Nicht wenige Bürger in einem zunehmend säkularen Land fragen sich deshalb: Wofür brauchen die Kirchen so viel Geld?

Die Kirchen selbst begründen das mit ihren umfassenden gesellschaftlichen Aufgaben. Sie sind verfassungsgemäß für den Religionsunterricht zuständig, leisten Kinder-, Jugend- und Entwicklungsarbeit, unterhalten die Friedhöfe und pflegen ihre eigenen Immobilien. Allein die evangelische Kirche in Deutschland besitzt zirka 75.000 Gebäude. Dazu gehören 27.000 Kirchen, Kapellen und Gemeindezentren, aber auch Kindertagesstätten, Schulen sowie gut 7.000 Wohnhäuser und Wohnungen. Darüber hinaus besitzen die Kirchen in Deutschland aber auch eigene Universitäten, Krankenhäuser, Reisebüros, Versicherungen, Banken und Radiostationen. Nach Schätzungen der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“ stellen die beiden großen Glaubenrichtungen ein Konglomerat aus etwa 80.000 Rechtsträgern dar und konkurrieren – ähnlich wie in Nigeria – mit säkularen Anbietern auf dem freien Markt.

Das bringt den Staat gegenüber seinen Steuerzahlern zunehmend in Erklärungsnot. Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, waren 98 Prozent der Deutschen in einer der beiden großen Kirchen organisiert. Die „rheinisch-katholische Republik“ des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) musste sich vor diesem Hintergrund nicht um ihre Legitimation sorgen. Das Deutschland von 2008 hat mit dem Deutschland von 1949 allerdings nicht mehr viel zu tun. In wenigen Jahren werden auch die formellen Mitglieder der beiden christlichen Konfessionen weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Und gerade angesichts der stetig steigenden Zahl von muslimischen Bundesbürgern (derzeit ca. 3,3 Millionen), stellt sich die Frage, ob die steuerliche Begünstigung der christlichen Kirchen noch dem im Grundgesetz festgeschriebenem Gebot der Gleichbehandlung aller Religionen entspricht.

Boris Herrmann,
veröffentlicht am 7.12.2008 in This Day.

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