Lagos

Lagos, 30.11.2008: Nichts für zarte Geschöpfe

Rugball in Lagos, Foto: Boris Hermann © Rugball in Lagos, Foto: Boris HermannNach zwei Minuten trieft die erste Nase. Beim Versuch, kopfüber in den Torraum des Gegners einzudringen, ist John mit voller Wucht gegen eine Wand aus Schultern und Kniescheiben geprallt. Er wird mit blutverschmiertem Oberkörper vom Feld getragen. John sitzt eine Weile abwesend am Spielfeldrand und starrt auf die rote Pfütze, die sich zwischen seinen Beinen im Sand bildet. Dann kippt er sich etwas Wasser ins Gesicht und trabt zurück auf den Platz.

John ist einer von zwanzig breitschultrigen Jungs, die sich jeden Sonntag am Strand von Lagos zum Rugball spielen treffen. Man muss nicht lange zusehen, um festzustellen, dass das keine Sportart für zarte Geschöpfe ist. Rugball hat vom Fußball die Tore und die Zählweise übernommen, vom Rugby den Körperkontakt und das eiförmige Spielgerät und von der Megapolis Lagos den Sinn für alles Extreme. Rugball ist schnell, anstrengend, mitreißend und nicht ganz ungefährlich. Könnte es ein Spiel geben, das besser zu dieser Stadt passt?

Der Hotelbetreiber Chike Nwagbogu ist so etwas wie der Gründungsvater von Rugball. Er ist Trainer, Manager und Spieler zugleich, organisiert die Anfahrt, übernimmt das Aufwärmprogramm, verfeinert die Regeln und hat für den geselligen Teil nach Spielende auch eine Flasche selbstgebrauten Kräuterschnaps dabei. Als Erfinder will sich Chike dennoch nicht bezeichnen. Er sagt, das Spiel habe sich selbst erfunden – aus einer logischen Kettenreaktion heraus. Der Legende nach ist vor gut zwei Jahren bei einem herkömmlichen Strandkick ein Ball geplatzt. Zunächst haben Chike und seine Freunde mit einer Kokosnuss weiter gespielt. Weil es jedoch nicht besonders angenehm war, mit nackten Füßen gegen eine Nussschale zu treten, vereinbarten sie, dass Spielgerät in die Hand zu nehmen. Nach fliegenden Kokosnüssen zu hechten, war auf Dauer wiederum für die beiden Torhüter nicht besonders angenehm. Eines Tages brachte Chike dann einen ovalen Rugby-Ball mit – die neue Sportart war geboren.

Eine Sportart, die nach der Meinung ihrer Urheber eine große Zukunft hat. Chike, John und ihre Freunde träumen von einem Ligasystem, einem Verband, einem Pokal, einer Landesmeisterschaft. Aber bei allem Pioniergeist, sie werden wohl noch eine Weile träumen müssen. Einstweilen gibt es lediglich zwei Mannschaft, und deshalb findet auch jedes Wochenende dasselbe Lokalderby statt: „City“ gegen „Language“ - die Jungs aus der Innenstadt gegen die Jungs aus jenen ausfransenden Randebieten von Lagos, wo kaum einer verständliches Englisch spricht. Vor allem im Language-Team sind viele Spieler arbeitslos, nicht wenige haben kein zu Hause. Was genau sie tagsüber machen, können oder wollen sie nicht erzählen. Irgendwie kommen sie jedenfalls durch, bis die fünf sinnlosen Überbrückungstage vorbei sind und es wieder Sonntag um 16.30 Uhr ist. Dann pressen sich 18 bis 20 Spieler, ein Schiedsrichter und einige Zuschauer in einen klapprigen roten Kleinbus, der bestenfalls 12 Sitzplätze hat, und rollen gemeinsam hinaus zum Kuramo-Beach.

Zugegeben, wenn man als Europäer das Wort „Beach“ hört, stellt man sich etwas anderes vor als jene bunte, flirrende, eingeräucherte Kleinstadt auf Sand, die wie ein Wurmfortsatz am Stadtteil Victoria Island hängt. Direkt hinter dem zusammengenagelten Eingangstor liegen, stehen, stapeln sich orangefarbene Hartplastik-Tonnen, die ihrer Geruchsaura nach zu urteilen seit mehreren Jahrhunderten als öffentliche Toilettenhäuschen benutzt werden. Auf dem Weg zum Rugball-Feld, das im wesentlichen aus zwei einsturzbereiten Holztoren mit zerfledderten Netzen besteht, passiert man Open-Air-Diskotheken, abgemagerte Rinder, undefinierbares Grillgut, improvisierte Einfamilienhäuser aus Wellblech, hunderte Strandverkäufer, tausende Menschen, Klappstühle und Sonnenschirme und vor allem: Müll. Müll so weit das Auge reicht.

So beginnt auch ein Rugball-Match traditionell mit einer kollektiven Strandputzaktion. Die einen sammeln größere Gegenstände wie Ölkanister, Eimer und Vogelleichen ein, die sich so über die Woche auf dem Spielfeld angesammelt haben. Die anderen rechen den Restmüll zu Seite. Auf diese Weise ergibt sich nach wenigen Minuten eine natürliche Spielfeldbegrenzung, ein Kleinstadion aus Abfall.

Das eigentliche Spiel ist bewusst einfach gehalten, das Regelwerk übersichtlich: Gepasst wird beidhändig, Tore zählen nur mit dem Fuß oder mit dem Kopf, kein Griff an den Hals, keine Bisse, keine Waffen. Das Match ist zu Ende, wenn eine Mannschaft zehn Punkte hat oder der Schiedsrichter die Kontrolle über die handelnden Personen verliert. Vergangenen Sonntag ging es mal wieder 7:5 aus.

Boris Herrmann,
veröffentlicht am 30.11.2008 in This Day.

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