Lagos

Lagos, 23.11.2008: Eindrücke eines Neuankömmlings

 © Lagos, Foto: Kunle-OgunfuyiWenn man einen durchschnittlichen Deutschen fragt, was er über Nigeria weiß, dann kreist das Ratespiel meist um die Stichworte Erdöl, Religionskonflikt und Malaria. Manch einer wird vielleicht noch auf Keziah Jones oder Dr. Alban verweisen, ausgewiesene Westafrika-Experten sogar auf Wole Soyinka. Breiterer Bekanntheit erfreuen sich lediglich die Super Eagles und das liegt nicht etwa an dem Olympiasieg von Atlanta, sondern an jenem Tor, das Jay Jay Okocha 1993 im Trikot von Eintracht Frankfurt gegen den damals milchgesichtigen Torhüter Oliver Kahn schoss. Dieses unfassbare Dribbling gehört zu den schönsten Momenten in der Geschichte der Fußball-Bundesliga und genießt bestimmt auch eine herausragende Stellung in Kahns Albtraum-Kabinett. Man kann durchaus sagen, dass es Okocha damit für einige Jahre zum berühmtesten Nigerianer in Deutschland gebracht hat. Später wurde er in dieser Rolle von Berti Vogts abgelöst, aber seit sich der glücklose Fußballlehrer nach Aserbaidschan verabschiedet hat, ist der massenmedial gestützte deutsch-nigerianische Kulturaustausch wieder nahezu zum erliegen gekommen.

Um es auf den Punkt zu bringen, ein durchschnittlicher Deutscher hat nicht die blasseste Ahnung von Nigeria, und weil dieser durchschnittliche Deutsche auch ich selbst sein könnte, habe ich mich unheimlich gefreut, als mir das Goethe-Institut anbot, mich für einen Monat als Gastredakteur in die Büros von This Day nach Lagos zu schicken.

„Nahaufnahme“ heißt das Austauschprogramm, an dem ich teilnehme. Wenn es nur so einfach wäre. Lagos ist die größte, dichteste, flirrendste, überfüllteste, chaotischste und spannendste Stadt, die ich jemals betreten habe. Es wird wohl noch ein paar Tage dauern wird, bevor ich hier etwas aus der Nähe aufnehmen kann. Zunächst einmal habe ich alle Hände voll damit zu tun, das große Ganze zu betrachten, den groben Überblick zu bewahren. Seit meiner Ankunft am Montagabend am Flughafen Murtala Mohammed befinde ich mich in einem Zustand ständiger Reizüberflutung. Wo ich auch hinschaue, meine Augen finden keinen Fleck, an dem sie sich ausruhen können. Überall bewegt sich etwas, überall sind Menschen, Tiere, Autos und Okadas. Eine Fahrt von meinem Hotel in Ikoyi zu den Redaktionsbüros auf dem Festland wird so zur Abenteuerfahrt durch einen irrsinnigen Großstadtdschungel. Am liebsten möchte ich jeden der Straßenhändler fotografieren, die inmitten der sich langsam dahinschleppenden Blechlawine Zwiebeln, Regenschirme, Mehrfachsteckdosen, Plüschtier-Ratten und gegrillte Hühner anbieten. Aber bevor ich meine Kamera fokussiert habe, entdecke ich schon wieder das nächste Fotoobjekt: eine Kuh am Straßenrand, ein schlafendes Kind auf einem Bett aus Benzinkanister, ein heillos überfüllter Kleinbus, das Nationaltheater, das wie ein gestrandeter Wal auf dem Festland sitzt. Ich habe noch kein einziges vernünftiges Bild gemacht und deshalb beschlossen mit dem Fotografieren so lange zu warten, bis ich mich halbwegs an die Geschwindigkeit dieser im Stau steckenden Stadt angepasst habe.

Ich bin nicht zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. Als Student bin ich durch Namibia, Botswana, Zimbabwe, Marokko und Ägypten gereist. Und doch habe ich jetzt zum ersten Mal das Gefühl, wirklich in Afrika zu sein. Afrika, das beginne ich jetzt zu verstehen, ist das, was nach europäischen Vorstellungen nicht funktionieren kann und doch auf wunderbare Weise funktioniert. Wenn in Deutschland einmal im Jahr der Strom für einige Minuten ausfällt, kommt das Leben praktisch völlig zum erliegen. Die Menschen irren hilflos durch die Dunkelheit, ärgern sich, dass sie keine Kerze zu Hause haben, rufen besorgt ihre Verwandten an oder legen sich schlafen. In Lagos fällt der Strom alle paar Stunden aus und wenn der Eindruck nicht täuscht, scheint diese Stadt das Problem dadurch zu lösen, dass sie es konsequent ignoriert. Als es gestern Abend in der Kneipe plötzlich dunkel wurde, hat mein Gesprächspartner Abiodun nicht einmal den Satz unterbrochen, den er bei voller Beleuchtung begonnen hatte. Und auch der Flachbildfernseher lief einfach weiter.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ich als Mitteleuropäer nicht gerade für ein Leben in einer tropischen Megastadt geschaffen bin. Ich lebe ganztägig unter einer dicken Kruste aus Insektengift und Sonnencreme, ich meide Eiswürfel, offene Getränke und rohe Salate, ich bin im Straßenverkehr so hilflos wie eine Schildkröte in Rückenlage, ich muss nach Einbruch der Dunkelheit aufpassen, dass ich nicht in die Kanalisation falle, und wenn ich aus einem herunter gekühlten Gebäude heraus auf die Straße trete, läuft meine Brille an.

Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, hat mich Lagos vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen. Noch weiß ich herzlich wenig über diese Stadt. Ich weiß allerdings, dass ich bislang nirgendwo auf der Welt, so herzlich empfangen wurde wie hier, dass an einem gewöhnlichen Montagabend im Stadtteil Obalende mehr Menschen auf den Straßen tanzen, trinken und schäkern als in Berlin in einem ganzen Sommer und ich ahne auch, weshalb mir die nigerianische Tänzerin Vera Ephraim erzählt, sie fliege ungern nach Südafrika, weil dort ein Menschenleben nicht viel zähle.

Würde ich mich strikt an die Ratschläge meines Reiseführers und meines Tropenarztes aus Berlin halten, dann hätte ich das alles gar nicht erlebt. Demnach müsste ich die kommenden vier Wochen unter einem klimatisierten Moskitonetz mit Selbstschussanlage verbringen und warten bis es vorbei ist.

Mein Moskitonetz werde ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland voraussichtlich ungeöffnet umtauschen. Was mir mein Reiseführer und mein Arzt nämlich nicht verraten haben, ist dass über meinem Hotelbett ein Ventilator hängt, der die Anbringung eines dieser Schutzzelte für ahnungslose Mitteleuropäer unmöglich macht.

Boris Herrmann,
veröffentlicht am 23.11.2008 in This Day.

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