Lagos, 23.11.2008: Ein Puzzle von Realitäten

Wenn es stimmt, was die Volkszählung von 2006 ergeben hat, dann leben hier gut neun Millionen Menschen. Das heißt aber auch, dass wir es mit mindestens neuen Millionen Wahrheiten zu tun haben, die Dunkelziffer nicht mitgerechnet.
Eine der in Europa kaum beachteten Wahrheiten ist, dass es in Lagos eine außerordentlich lebendige Kunstszene gibt, innerhalb derer außerordentlich wohlhabende Sammler zu außerordentlichen Preisen außerordentlich interessante Bilder erwerben. Ich habe diesen Teil der Wahrheit am Mittwochabend bei der 2. Art-House-Auktion im Civic Centre auf Victoria Island kennen gelernt. Draußen vor der Tür schaukelten polierte Motoryachten in der Abendsonne, als ein weißhaariger Auktionator, der dem Akzent zufolge direkt aus Oxford eingeflogen worden war, 103 Gemälde und Skulpturen von David H. Dale, Bruce Onobrakpeya, Ben Osawe, Uche Okeke, El Anatsui und vielen anderen unter den Hammer brachte. Nebenbei servierten elegant gekleidete Models elegant gekleideten Kunstfreunden Champagner und Thunfisch-Häppchen. Wäre das Ölgemälde mit dem Namen Faith von George Edozie (Kaufpreis N 450.000) bei der Präsentation nicht um ein Haar in der zuschnappenden Schwingtür zu Bruch gegangen, wäre der Abend wohl vollends sorgenlos verlaufen.
Den höchsten Preis erzielte an diesem Abend das Bild Blue Moon des in Lagos geborenen Künstlers Yusuf Grillo von 1966. Es ist ein nur 60 mal 60 Zentimeter großes, dafür hochkonzentriertes Festival aus leuchtendem Blau und verwunschenem Violett, das nur dank der kontrastierenden grün-braun Töne irdischen Halt findet. Grillos Werk wechselte für 8,8 Millionen Naira seinen Besitzer. Eine Wahrheit ist, dass dieses Bild seinen Preis durchaus wert ist.
Direkt vor dem schweren gusseisernen Eingangstor des Civic Centres erlebte ich auf meinem Nachhauseweg schon wieder ganz andere Wahrheiten – die der Okada-Fahrer auf der Falamo-Bridge, und die der Zitronenhändler auf der Awolowo Road, zum Beispiel. Und plötzlich breitete sich in meinem Kopf der Gedanke aus, dass es sich letztlich auch bei Grillos beeindruckendem Blue Moon nur um ein Bild handelt.
Als ich vor meiner Pension angekommen war und die drei Jungs sah, die unter den Bäumen Palmwein tranken, fragte ich mich, ob sie mir wohl glauben würden, wenn ich ihnen erzählte, dass ich gerade von einer Kunst-Auktion komme, auf der jemand 8,8 Millionen Naira für ein Bild bezahlt hat. In einem der Imbisse auf der anderen Straßenseite könnten sie dafür 44.000 Mal Mittagessen gehen.
veröffentlicht am 23.11.2008 in This Day.