Berlin

Berlin, 1.11.2008: Berge gestampfter Jamswurzeln

 © © N Schmitz/PIXELIO; www.pixelio.de

Am Nachbartisch lässt eines der Mädchen - vielleicht sind es auch zwei oder mehr - seinen schläfrigen Blick zu mir schweifen. Und mein leerer Blick läuft in ihre allgemeine Richtung, bevor er sich im Nichts verliert. Abgesehen vielleicht vom Empfangssaal der nigerianischen Botschaft habe ich seit meiner Ankunft in Berlin vor knapp zwei Wochen nirgends so viele schwarze Menschen auf einem Fleck gesehen wie hier. Emmanuel Eni, der in Berlin lebende Künstler aus Nigeria, mit dem ich hier bin, ist mit einem jungen, arglos aussehenden Kerl in einem der hinteren Räume verschwunden.

Unter Unmutsäußerungen und Flüchen hatte sich der Künstler mit den Rastalocken in seinem Mercedes 180 geschickt den ganzen Weg von meinem Hotel am Alexanderplatz bis in dieses Viertel gebahnt. Ein kurzer Zwischenstopp am Nigeria-Haus brachte eine klare Entscheidung. Hier war nichts los. Auf einem Flachbildschirm flimmern die „Simpsons“, aber keiner interessiert sich dafür; gleichzeitig dringt nigerianisch eingefärbter HipHop aus dem Hintergrund an unser Ohr. Könnte man die Dezibelzahl in diesem Raum messen, lägen wir wohl noch im grünen Bereich.

Wir sind im Fifty-Fifty, einem nigerianischen Restaurant mit Disco, Bar und Soul Food. Es liegt an einer dieser kopfsteingepflasterten Straßen in Neukölln. Das nigerianische Flair lässt sich nicht abstreiten. Angefangen von der Bar, über die Jukeboxen bis hin zum Gastraum im Obergeschoss.

Überraschung: die Mädels am Nachbartisch arbeiten sich mit bloßen Händen durch Berge gestampfter Jamswurzeln. Zu Hause in Nigeria kein sehr damenhaftes Verhalten, wenn Sie wissen, was ich meine. Ein hoher Anspruch verlangt wohlerzogenes Verhalten. Kleiner Exkurs: Vor vielen Jahren, lange bevor die Wirtschaftskrise den Nigerianern Rätsel aufgab, machten die Damen sich einen Sport daraus, lustlos in ihrem Essen herumzustochern. Man durfte in der Öffentlichkeit auf keinen Fall zeigen, dass man großen Appetit hatte. Die Zeiten haben sich geändert.

Die Musik im Hintergrund wechselt ohne Vorwarnung. Der Rhythmus legt zwei Schritte zu und ein indisch aussehendes Mädchen, das seinen Körper wie in Trance wiegt, nimmt die freie Fläche zwischen den Tischen für sich ein. Ihr Auftritt erregt kein Aufsehen. Sehr nigerianisch.

Unser Essen kommt. Emmanuel sitzt jetzt wieder an seinen Platz, um sich des dampfenden Bergs gestampfter Jamswurzeln anzunehmen, der vor ihm steht. Die Portion ist so groß, dass ich mir einen Kommentar nicht verkneifen kann. Ob er das schaffen wird? Die hübsche Kellnerin lächelt so, als wüsste sie mehr als ich.

„Pass auf“, sagt Emmanuel.

Genau das hätte ich tun sollen. Schon befindet sich ungefähr ein Fünftel seines Essens auf meinem Teller. Was folgt, ist ein kulinarisches Erlebnis, das die Menschen zu Hause in Nigeria verblüfft hätte. Gestampfte Jamswurzel mit „Nkwobi“! Letzteres soll eigentlich ein schmackhaftes Fleischgericht sein. Meines hier enthält aber jede Menge getrockneten Stockfischs. Nicht ganz so wie bei Muttern, aber fast.

Wir bestellen keine zweite Flasche Wasser. Emmanuel ist der Meinung, fünf Euro seien für einen Dreiviertelliter zu viel. Wir trinken woanders was, sagt er, während wir uns unseren Weg nach draußen bahnen. Woanders was trinken? Vergiss es. Das ist schon vergessen.

Emmanuel hat jetzt dringendere Angelegenheiten im Kopf. Beschwingt ist nicht unbedingt das richtige Wort für seine zahllosen Manöver in den Straßen von Berlin. Eher angstgetrieben. Er ist kein schlechter Fahrer, das nicht. Er sitzt einfach nur "energiegeladen" hinter dem Steuer. So, als ob er gerade bis zum Hals in einem seiner künstlerischen Schaffensprozesse stecken würde.

„Wie heißt denn der Besitzer des Restaurants?“, will ich wissen. Er sagt es mir. Tony und etwas Undruckbares.

„Kein Witz?“ - „Nein, so nennen die ihn wirklich“. - „Und sein echter Name?“ Aber da hat schon wieder etwas anderes seine Aufmerksamkeit erfasst und meine Frage bleibt unbeantwortet.

Okechukwu Uwaezuoke,
veröffentlicht am 1.11.2008 in der Berliner Zeitung.

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