Beirut, 15.11.2008: Ein Leben wie Straßenverkehr
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Das mag banal und oberflächlich klingen. Ich habe aber inzwischen kapiert – und das ist die wichtigste Erkenntnis dieser Reise – , dass der Straßenverkehr auf symbolhafte Weise den Umgang der Libanesen mit ihren Lebensumständen widerspiegelt. So wie sie Auto und Roller fahren, so regeln sie auch ihr Zusammenleben untereinander. Rote Ampeln zum Beispiel sehen sie als eine Option, nicht als Verpflichtung an. Man fährt einfach los und setzt voraus, dass die anderen schon bremsen. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein unglaubliches Chaos, es funktioniert aber. Übertretungen werden nicht geahndet, man kann mit dem Fahrrad nachts ohne Licht gegen die Einbahnstraße an einem Polizisten vorbei fahren. Er nimmt einen nicht mal zur Kenntnis.
Der Staat, der auch hier Regeln vorgibt (rote Ampel), ist schwach. Also regeln es die Menschen eben selbst. Das gleiche gilt für viele Bereiche des öffentlichen Lebens, das Schulsystem etwa. Die staatlichen Schulen sind schlecht ausgestattet und haben viel zu wenige Lehrer. Also gründen die Libanesen eben Privatschulen. Es gibt kein säkulares Familienrecht, also heiraten sie eben im Ausland. Es gibt kein Geld vom Staat nach Bombardierungen, also bauen sie ihre Häuser eben selbst wieder auf.
Dabei mögen sie noch so unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören – in ihrer Ablehnung gegen den Staat Israel sind sich alle Libanesen einig. Ich habe dieses Thema lange versucht auszublenden, weil ich ja nicht als Korrespondent gekommen bin. Man kommt aber daran auf Dauer nicht vorbei. Rami, ein Taxifahrer, hat mir seine Geschichte erzählt. Er stammt aus dem Süden, ist in der Nähe der israelischen Grenze aufgewachsen. „Viermal haben die Israelis mein Elternhaus zerstört“, berichtete er. „Wir haben es jedes Mal wieder aufgebaut. Ein Frieden mit diesem Staat ist für mich nicht möglich.“ Irgendwann, so glaubt Rami, werde es nur noch ein Palästina geben, „und das wird für alle offen sein, auch für Juden“.
Im Frühjahr wird gewählt
Das Gespräch mit Rami hat mir klar gemacht, wieweit die Region von einem echten Frieden entfernt ist. Und dennoch bauen die Libanesen ihr Land auf. In Beirut wachsen die Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden, in der Stadt wird massiv investiert. Was zu regeln ist, wird geregelt. So ist man hier auch im Dialog der Religionen –wenn auch gezwungenermaßen – viel weiter als etwa in Frankfurt. Schon vor 15 Jahren wurde ein Komitee für den islamisch-christlichen Dialog gegründet, das sich als Mediator bei Konflikten versteht. Zuletzt hat das Gremium im Mai dieses Jahres vermittelt, als die Hisbollah die komplette Innenstadt blockierte. Spannungen gibt es weiterhin, das Land ist kein Hort des Friedens. In diesem Sommer gab es zwei Anschläge mit Dutzenden Toten.
Im Frühjahr sind Parlamentswahlen. Zurzeit hat dort eine prowestliche Allianz die Mehrheit. Noch immer werden die Sitze im Parlament und in der Regierung nach dem Bevölkerungsanteil der 18 Religionsgruppen verteilt – man ist also quasi zum Reden gezwungen. Völlig ausgeblendet wird dabei die Frage, ob der Proporz überhaupt noch stimmt. Die letzte Volkszählung war 1932. An einer neuen Erhebung hat vor allem die christliche Fraktion kein Interesse; dort fürchtet man, dass die Bevölkerung sich inzwischen stark zugunsten der Muslime verschoben hat. Nicht zuletzt durch die palästinensischen Flüchtlinge.
Die befinden sich in einer ausweglosen Lage. In ihr Land können sie nicht zurück, und im Libanon dürfen sie aus politischen Gründen nicht sesshaft werden.
Man könnte an den Problemen des Landes verzweifeln. Man kann es aber auch genießen. Vier Wochen Libanon können jedenfalls nicht ohne einen Ausflug zu den touristisch interessanten Orten des Landes zu Ende gehen. Denn obwohl er nur halb so groß wie Hessen ist, bietet der Libanon auch abseits der Städte Beirut und Tripoli oder der biblisch-historischen Orte Byblos, Sidon und Tyros eine Fülle von Ausflugsmöglichkeiten. Vor allem das einzigartige Qadisha-Tal, seit 1998 Weltkulturerbe der Unesco. Das Tal ist quasi der Grand Canyon des Libanons. Dabei bietet er mehr als eine atemberaubende Schlucht, in die Felsen haben maronitische Mönche Klöster gebaut. Sie legten Terrassen an, auf denen sie bis heute Obst, Gemüse und Wein anbauen. Über der Schlucht thront das idyllische Städtchen Bcharré. Dort kann man unter anderem das Museum und die Grabstätte des berühmten libanesischen Philosophen und Malers Khalil Gibran (1883-1931) besichtigen.
Weiter oben erreicht man das höchste Ski-Gebiet des Landes. Und natürlich die Zedernwälder, Wahrzeichen des Libanon. Einige der Bäume stammen, wie es heißt, aus der Zeit vor Christus, sie sollen bis zu 3000 Jahre alt sein.
Kollegin aus Beirut in der FR
Im Projekt „Nahaufnahme“ des Goethe-Instituts ist nun Halbzeit. Als deutscher Journalist in Beirut habe ich sehr offene und tolerante Menschen kennen gelernt, mit denen man über alles, außer über Israel, diskutieren kann. Von Montag an wird die Kollegin der libanesischen Zeitung Al Hayat, Rana Najjar, in der FR ihre Eindrücke des Lebens in Frankfurt schildern. Mal sehen, was sie – zum Beispiel über den Straßenverkehr – zu berichten weiß.
veröffentlicht am 15.11.2008 in der Frankfurter Rundschau.