Beirut

Beirut, 25.10.2008:
Zwischen Vertrauen und Vertrauensfrage

 © Wie man aus Meinungsumfragen Kapital schlagen kann, hat US-Präsidentschaftskandidat John McCain gerade bewiesen. „Er kokettiert damit, dass er im Hintertreffen liegt“, sagte Professor Jawad Adra, Direktor der unabhängigen Forschungsgruppe International Information, während einer Diskussion über die Bedeutung von Meinungsumfragen am Montag im „Soziologen-Café“ der AUB. Als erfahrener Medien-Profi wisse McCain, dass ein souveräner Umgang mit miesen Umfragewerten Wählerstimmen bringen könne.

Warum Umfragen in den USA eine große Bedeutung haben, in der arabischen Welt aber kaum, das machte Professor Adra an einigen Beispielen deutlich. Er wies zunächst auf die lange Tradition der Meinungsforschung in den USA hin. Dort seien schon 1824 die ersten Umfragen gestartet worden. In Libanon dagegen habe die Meinungsforschung erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen. „Die Menschen sind in diesem Teil der Welt nicht vom Sinn von Umfragen überzeugt“, hob Professor Adra hervor. Stattdessen komme es vor, dass Politiker mit fiktiven Zahlen ohne seriösen Hintergrund operierten. „Wenn zwei Politiker behaupten, sie hätten 70 Prozent der Wähler hinter sich, dann haben wir 140 Prozent.“ Hintergrund des fehlenden Interesses libanesischer Politiker an Umfragen sei die Tatsache, „dass sie keine schlechten Nachrichten hören wollen“.

Aber nicht nur Politiker, auch libanesische Geschäftsleute legen nach Adras Worten keinen großen Wert auf Meinungsumfragen. Er nannte ein Beispiel: Die ABC-Shopping-Mall in Achrafiye. „Sie liegt an einer belebten Straßenkreuzung. Aber die Investoren haben nicht danach gefragt, was die Leute davon halten. Sie wollten es nicht wissen.“

Selbst die libanesischen Bürger haben, wie Adra weiter vortrug, kein großes Vertrauen in Umfragen. So habe man 2002 erforscht, ob die Menschen an Umfragen glauben. Ergebnis: Fast jeder Zweite glaubt nicht daran oder ist zumindest skeptisch. Nur etwa jeder Vierte äußerte sich positiv.

Obwohl die Sozialforschung also kaum Widerhall im öffentlichen Leben Libanons findet, gibt es neben der Arbeit von Information International eine Fülle von - im Land weithin unbekannten - Umfragen. Die werden, wie Adra darlegte, von westlichen Ländern initiiert. „Was die Menschen in den arabischen Ländern denken, ist für den Westen von hohem Interesse.“

Mit seiner Forschungsgruppe hat Professor Adra schon eine Menge Vorarbeit geleistet. Information International gibt die Zeitschrift „The Monthly“ heraus, die Statistiken zu den jüngsten Forschungsarbeiten, etwa über steigende Fälle von Selbstmorden oder Scheidungen, veröffentlicht. Politiker kommen bei diesen Umfragen in der Regel nicht gut weg. Drei Viertel der Menschen in Libanon, so fanden die Forscher heraus, trauen den Politikern nicht. So verwundert es nicht, dass auch die libanesischen Medien keinen großen Wert auf die statistisch aufbereitete Volksmeinung legen.

Ganz anders in Deutschland. Dort sind Umfragen, etwa die über die Beliebtheit von Politikern, ein beliebtes Ritual überregionaler Zeitungen und Zeitschriften. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, aber auch Magazine wie „Der Spiegel“ veröffentlichen monatlich so genannte Deutschland-Trends. Standardfrage: Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Wahl wäre?“ Vor Landtagswahlen im Bundesland Hessen beteiligt sich auch die „Frankfurter Rundschau“ an Wahlumfragen. Auf der Skala der beliebtesten Politiker steht Bundeskanzlerin Angela Merkel zurzeit ganz oben, 60 Prozent der Bürger würden ihr bei einer direkten Wahl die Stimme geben.

Freilich ist das Vertrauen der Bürger in Umfrage auch gekoppelt an die Frage, welches Institut sie durchgeführt hat. So gelten einige, etwa „Allensbach“, eher als konservativ, während andere eher dem linken Lager zugerechnet werden. Auf die Aussagekraft der Ergebnisse wirkt sich dies, wie die Erfahrung gezeigt hat, jedoch kaum aus. Die Fehlerquote bei Wahlprognosen liegt bei plus-minus drei Prozent.

Und Politiker, die in den Umfragen hinten liegen, sehen in den Ergebnissen, wie John McCain, eine Chance. Denn sie hoffen, dass die Wähler ihres Gegners - weil sie einen sicheren Sieg ihres Kandidaten erwarten – gar nicht erst zur Wahl gehen.

Martin Müller-Bialon,
veröffentlicht am 25.10.2008 in Al Hayat.

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