Beirut, 2.11.2008:
Im Herzen Beiruts: Eine Straße mit zwei Gesichtern
Wo bitte stehen denn hier die Preise? Wer als Europäer ins Ausgeh-Viertel Gemmayzeh kommt, stellt sich diese Frage unweigerlich. Keines der vielleicht zwei Dutzend Restaurants hat am Eingang einen Aushang mit der Preisliste. Wer hier einkehrt, so soll wohl die Botschaft lauten, für den sollte Geld keine Rolle spielen. Und in der Tat: Die Autos, die am Wochenende in dieser Gegend vorfahren, weisen auf einen ziemlich dicken Geldbeutel ihrer Besitzer hin. Gleich am Anfang der Rue Gouraud, gegenüber vom Café Paul, parkt an diesem Abend gut sichtbar ein Lamborghini – spätestens jetzt weiß jeder, was gespielt wird.
Das Spiel – oder sollte man sagen der Ansturm der Luxus-Karossen? – beginnt freilich erst nach 22 Uhr. Wer vorher kommt, läuft an weitgehend leeren Restaurants mit hübsch gedeckten Tischen vorbei. Ohne Reservierung sollte man jetzt möglichst keinen Hunger haben. „Sorry, wie are overbooked“, heißt es gleich in mehreren Lokalen. Mit ein wenig Glück erhält man einen Platz am Tresen. An diesem Abend ist es das Louie, eine Restaurant-Bar mit Live-Musik und allerlei Musikinstrumenten als Wanddekoration. Heute spielt hier die Jazz-Rock-Combo Christo, deren Mitlieder sich noch mit dem Soundcheck beschäftigen. Da hockt man dann in einer spärlich gefüllten Kneipe auf einem engen Barhocker und mampft sein Essen. Die gedeckten Plätze sind tabu, weil vorbestellt.
Dann aber, so gegen Viertel nach zehn, ändert sich die Szenerie schlagartig. Wie auf Kommando rollen sie an, die Porsches, S-Klasse-Mercedes, Jeeps, Hummer, Volvos und BMWs. Viel zu viele für dieses kleine Viertel, genauer für ein Straßenstück von vielleicht 800 Metern. Ruckzuck entsteht ein Stau bis zurück auf die Rue Georges Haddad. Warum um alles in der Welt kommen diese Leute nicht mit dem Taxi? Darauf gibt es nur eine Antwort: Sie haben ihre Autos nicht nur zum Fahren gekauft, sondern insbesondere auch zum Vorzeigen.
Damit ihre Gäste trotzdem nicht lange einen Parkplatz suchen müssen, haben sich einige Restaurants etwas einfallen lassen: Valet Parking. Fahrer übernehmen wie im Hotel die Luxusschlitten und bringen sie – ja wohin denn? Die wenigen Hinterhöfe sind alsbald zugestellt. So kurvt der Parkdienst um den Block und mancher gibt dabei vor lauter Spaß dermaßen Vollgas, dass er sogleich von einem anderen zusammengestaucht und abgelöst wird. Dass das alles nur mit einem ständigen Hupkonzert vonstatten gehen kann, versteht sich in Beirut von selbst.
Gehupt wird auch in Beiruts zweitem Kneipenviertel Hamra. Hier sind es freilich eher Normalverdiener, die einen Parkplatz suchen, zudem kurven mehr Roller auf den Straßen herum. Hamra, quasi das Studentenviertel der Stadt, bietet Kulinarisches und Musikalisches für den kleineren Geldbeutel. Beim Party machen aber gibt es zwischen den Reichen in Gemmayzeh und der Jugend in Hamra keinen Unterschied: Sie feiern, als gäbe es kein Morgen.
Café-Bars wie das T-Marbouta, Baromètre oder Samra sind ein beliebter Treffpunkt für junge Beiruter oder Studenten der AUB. Bisweilen tauchen auch einige Europäer hier auf. Im Samra etwa spielt an diesem Abend eine Band traditionelle Musik mit Oud, Tamburin, Geige und Bass. Der Club besteht aus zwei Räumen in einer der wenigen historischen Villen, die den Bürgerkrieg überstanden haben. Irgendwann, niemand hat ein Kommando gegeben, fassen sich alle an den Händen und vollführen auf engstem Raum den libanesischen Formationstanz Dabkeh, der ein bisschen an den irischen Steptanz erinnert. Es dauert nicht lange, da stehen die meisten singend und klatschend auf den Stühlen. In Europa kann man so eine Ausgelassenheit allenfalls auf privaten Partys erleben. Wer sich in einer Bar auf den Stuhl stellt, kriegt Ärger mit dem Wirt.
Derweil staksen in der Rue Gouraud einige der Damen, die von ihren Ehemännern oder Verehrern ausgeführt werden, mit High Heels über das löchrige Pflaster. Ein Wunder, dass sie sich dabei nicht die Knöchel brechen. Es sind freilich auch Gruppen mit jungen Frauen zu sehen, die in Lokale wie 55–Lounge Bar, Copper, Hickey`s, Corleone oder den über zwei Etagen angelegten Melting Pot strömen. Die direkt über den Eingängen der zum Teil historischen Häuser abenteuerlich verlegten Stromkabel stören niemanden. Auch nicht die irrwitzig hohen Bordsteinkanten.
Erst am nächsten Morgen, wenn die Invasion der Reichen und Schönen vorüber ist, findet Gemmayzeh wieder zu sich selbst. Jetzt haben die kleinen Obst- und Gemüselädchen wieder auf, von denen im abendlichen Gewühl nichts zu sehen war. Am Straßenrand parkt ein etwa 35 Jahre alter, total verbeulter VW-Bus. Ein Stück Holz ersetzt die fehlende Schiebetür, der rechte Scheinwerfer hängt lose aus der Verankerung. Gäbe es im Guinessbuch auch einen Rekord für die Verwandlungskunst von Straßen – die Rue Gouraud hätte gute Chancen auf einen Eintrag.
veröffentlicht am 2.11.2008 in Al Hayat.