Mumbai, 18.5.2011: Die Unfassbare

Die schöne Katrina lächelt. Sie hat Mandelaugen, glänzende Haare und eine helle Haut. Katrina ist Schauspielerin, Sängerin – und Schönheitsideal. Ihr Bild hängt in einem Salon mitten in Dharavi, dem größten Slum Asiens. Hier gibt es alles: Friseure, Schneider, Bäckereien. Der Teint von Katrina auf dem Plakat ist hell. Viel heller als der von den Frauen, die im Raum auf den verrosteten Drehstühlen sitzen.
Seit vier Jahren betreibt Manisha Parmar, 26, den Salon. Sie macht Wachsbehandlungen, Pediküre und Maniküre, Make-up und Haarstyling – und auch Hautbehandlungen. Die Schönheit misst sich hier proportional zur Helligkeit der Haut. Es gibt in Indien die Kosmetiklinie „Fair and lovely“, ein Bleichungsmittel. Jeder kennt die Firma. Auch hier in dem Raum, in dem es nach Sandelholz duftet. Der Elefantengott Ganesh steht in der Ecke. Katrina lächelt vom Plakat.
Shailesh N. Jethva ist ein schmaler Junge und sieht viel jünger aus als 21 Jahre. Er studiert Chemie. Und er lebt hier in Dharavi. Natürlich hat er „Slumdog Millionaire“ gesehen. „Der Film hat nur die mafiösen Zustände gezeigt“, sagt Shailesh, „nicht aber die Produktivität.“ Wie alle Slum-Bewohner ist er stolz auf seine Herkunft. Sein Vater ist Schreiner, seine Mutter macht Kerzen in Heimarbeit. Er wohnt mit ihnen und zwei Geschwistern in einer kleinen, immerhin zweistöckigen Hütte, die drei auf zwei Meter misst, in der Fernseher und Shiva-Schrein stehen. Wo gekocht, geschlafen, gearbeitet, geliebt und gestritten wird. Es gibt eine kleine Duschkabine im Eck. Die öffentlichen Toiletten teilt er sich mit 800 anderen Menschen. Eine Rupie, umgerechnet 1,5 Cent, kostet die Verrichtung der Notdurft. „Zwei, wenn’s pressiert“, sagt Shailesh und lacht. Mehr als eine Million Menschen leben hier auf engem Raum. Das Erstaunlichste ist: In Dharavi werden jährlich 450 Millionen Euro umgesetzt. Willkommen im Wirtschaftswunderland zwischen Reis und Fladenbroten, die in der Sonne trocknen.
Wenn es nach den Stadtplanern geht, soll aus Dharavi, dem Slum inmitten der Megametropole, ein Wohnviertel mit Wolkenkratzern werden. Die Bewohner sollen zwangsumgesiedelt werden.
Gebraucht werden sie überall – als Taxifahrer und Hausmädchen. In Turbokapitalismus-City ist kein Platz mehr für sie. Denn Mumbai ist nicht nur Indiens modernste, sondern mit rund 23 Millionen Einwohnern auch bevölkerungsreichste Metropolregion. Mumbai ist eine Stadt der maximalen Unterschiede. Mumbai ist Metropole und Moloch. Boomtown und Slumbay. Mumbai ist alles. Armut und Reichtum. Tradition und Moderne. Ost und West. Das Faszinierende an der Stadt ist ihre Unfassbarkeit. Mumbai ist wie ein Magnet, der viele Menschen anzieht, manche aber auch abstößt.
Der Schriftsteller und Kurator Ranjit Hoskoté, der dieses Jahr den indischen Pavillon bei der Biennale in Venedig bespielt, hat keine romantisch-verklärenden Ansichten seiner Stadt, in der er 1969 geboren wurde. „Die Stadt kollabiert“, sagt er. „Der Verkehr ist furchtbar, der Lärm ist nicht auszuhalten, und es gibt quasi keinen Bürgersinn.“ Vor zehn Jahren hätte er die Frage nach der Anziehungskraft noch viel positiver beantwortet, doch heute –mit der rechtsextremen Shiv-Sena-Partei an der Macht – sieht er die Entwicklungen in seiner Heimat mit Skepsis. „Die Stadt wurde von aggressiven politischen Mächten ausgequetscht und fällt auf der einen Seite der Engstirnigkeit und auf der anderen dem Konsumdenken zum Opfer.“
Mumbai fehlt es an vielem. Vor allem an Platz und öffentlichen Plätzen. Bisweilen glaubt man, hier herrsche geradezu Anarchie. Auf den Straßen sowieso. Auf den Bordsteinen werden Filme auf selbst gebrannten DVDs gehandelt, die bei uns noch nicht einmal im Kino gelaufen sind. Das Chaos aber wird immer wieder durchbrochen. Man staunt etwa über die Dabbawallahs, die hausgemachtes Mittagessen an rund 200 000 Büroangestellte liefern. Es ist ein unglaubliches System, das es nur in Mumbai gibt. Es heißt, es gebe nur eine Fehllieferung unter 16 Millionen Essen.
Auch wenn hier ein System dahintersteckt, scheint dies in der Stadt oft nicht vorhanden. Es wird gehupt. Ständig. Überall. „Do not honk – avoid noise pollution“, steht auf einem Schild, das einen vor Ironie müde lächeln lässt. „Nicht hupen, vermeiden Sie Lärmbelästigung.“ Mit der Zeit gewöhnt man sich an den Geräuschpegel, der daran erinnert, wie es war, als die deutsche Fußball- Nationalelf ins Finale eingezogen ist. Der Lärmpegel ist im Schnitt 30 Dezibel höher als der Wert, den die Weltgesundheitsorganisation WHO als akzeptabel beschreibt. Rote Ampeln? Der Stärkere fährt vor. Suketu Mehta schreibt in seinem Buch „Bombay – Maximum City“: „Die Luft Bombays einzuatmen ist ungefähr so, als würde man täglich zweieinhalb Schachteln Zigaretten rauchen. Früher ging die Sonne im Meer unter. Heute versinkt sie im Smog.“ Mumbai ist eine Herausforderung für alle Sinne und den gesunden Menschenverstand.
Dann gibt es aber auch Menschen wie Shanta Chatterji, eine Umweltaktivistin und elegante Dame, die das Projekt „Clean Air Island“ mit ins Leben gerufen hat. Sie sorgt sich um die Luft in der Stadt – und wie man die extreme Verschmutzung bekämpfen kann. Ganz im Süden der Stadt wurde ein Park geschaffen, eine Kompostieranlage mit Erdwürmern und Pflanzen angelegt. Das erscheint hier wie eine grüne Revolution. Zu tun gibt es jede Menge, denn in Mumbai werden jeden Tag 6000 Tonnen Müll produziert. Die Initiatoren hinter „Clean Air Island“ wollen die Lebensqualität in Megastädten erhöhen. Ein hehres Ziel. Von der Öffentlichkeit vor Ort werden sie kaum wahrgenommen. Finanzielle Unterstützung erhoffen sie sich unter anderem von der Europäischen Union.
Der Schriftsteller Hoskoté weigert sich, seine Heimatstadt Mumbai zu nennen. Für ihn ist es nach wie vor Bombay – „ein Name, der die kosmopolitische, multi-ethnische und multi-linguistische Struktur der Stadt beinhaltet“. Bombay stammt von den Portugiesen, die die Stadt „Bom Bahia“, also „gute Bucht“, genannt haben. Noch heute ist die Stadt eine Verheißung, in der die Menschen nach ihrem persönlichen Glück streben. „Mumbai ist wie New York“, sagt Chatterji von „Clean Air Island“, „es ist eine Stadt, die niemandem gehört.“ Und eine Stadt, in der viele Inder von überall her leben wollen, weil hier das Geld sitzt.
Die Mietpreise sind mit jenen von London oder Tokio vergleichbar. Die Trendviertel heißen Bandra oder Juhu Beach, wo sich auch die Bollywood-Stars ihre glitzernden Paläste gebaut haben. Die Reichen in Mumbai können in ihren Blasen leben: Sie sind Mitglied in Clubs, in denen der Alkohol billig ist. Sie shoppen in riesengroßen Einkaufszentren wie etwa dem Phoenix Mills.
Im Viertel Powai wurden viele topmoderne Wolkenkratzer hochgezogen, um den Süden der Stadt zu entlasten. Die Stadt wächst und wächst. Die Grenze ist das Meer im Süden und Westen. „Mumbai ma rotlo made, otlo nahi“ sagen sie hier in der Sprache Gujarati: „Die Stadt gibt dir zu essen, aber keinen Platz, wo du bleiben kannst.“ Mumbai sind viele Dörfer in einem großen Bollen, der sich an das Meer gepresst hat. Und Mumbai ist eine junge Stadt. Im doppelten Sinne. Gerade mal 300 Jahre alt. Über die Hälfte der Einwohner ist jünger als 25 Jahre. Sharad Vyas, Redakteur bei der Tageszeitung „Times of India“, liebt die Energie in Mumbai. Er hat eine Zeit lang in Dubai am Persischen Golf gearbeitet, dieser „künstlichen Stadt“. Toller Job, tolles Geld. Doch er kam zurück. „Bombay gehört die Zukunft“, sagt er. Die Frage ist, nur welche.
veröffentlicht am 18. Mai 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.