Mumbai

Mumbai, 2.5.2011: Saris im Fahrtwind

 © © Foto: Anja WasserbächMumbai ist alles – und noch viel mehr. In der letzten Nahaufnahme aus Mumbai wird es Zeit, Bilanz zu ziehen.

Am Anfang war der Stadtplan. Artig zusammengefaltet. Keine Falz eingerissen. Er zeigte natürlich nur einen Ausschnitt der Megastadt Mumbai. Den südlichen Zipfel, Stadtteile wie Colaba und Fort, den begrünten Platz Flora Fountain, dessen leuchtender Rasen jeden Tag gegossen wird, den halbrunden Strandabschnitt bis rüber zum Malabar Hill. Schöne, globalisierte Welt: Ich hatte mir den Stadtplan über das Internet bestellt, hatte mir Punkte eingezeichnet, wo ich wohnen und arbeiten werde. Kein Vorstellungsvermögen hat geholfen. Die Realität holte mich schon am ersten Tag ein, als ich wild mit meinem Stadtplan herumfuchtelte und dem Taxifahrer zeigte, wo denn die Redaktion der „Times of India“ liegt. Er wollte mich einfach nicht verstehen. Und verlangte am Schluss dreimal so viel wie sonst für die Strecke üblich. Touristenmalus, dachte ich mir.

Die Mumbaikar benutzen keinen Stadtplan, sie orientieren sich an bekannten Punkten und Plätzen. An diesem Platz rechts, dann wieder links, heißt es zum Beispiel. Mumbai ist ständig in Bewegung. Und auch wieder nicht. Es stockt immer überall. Auf dem Bürgersteig, auf der Straße und im Zug. Wie nähert man sich einer Stadt? Am besten zu Fuß. Man schlendert durch die Straßen, gibt den Strolch. In Mumbai geht das nicht. Zu viel Hitze, zu viele Menschen, zu viel Smog. Und: Ich bin eine Frau. Eine blonde Frau, die sofort auffällt. Flanieren geht hier nicht. Rumsitzen und ein Buch lesen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Der Stadt mangelt es an öffentlichen Plätzen.

Die erste Zugfahrt. Hier bekommt das Wort Ellbogengesellschaft eine neue Bedeutung. Ständig hat man einen spitzen Knochen in den Rippen. Zur Rushhour fühlt man sich wie ein Vieh im Tiertransport: eingepresst, eingedrückt, eingepfercht zwischen schwitzenden Menschen und Saris im Fahrtwind. Das ist Personen-sehr-nah- Verkehr. Regeln gibt es scheinbar keine. Die Meute will raus, eine Menge rein. Im selben Moment. Es gibt keine Türen, was praktisch ist für jene, die nicht mehr ganz hineinpassen. Auch auf den Dächern fahren sie mit, was zu Verletzten und Toten führt. Es wird aus dem Fenster gespuckt, das Gemüse für das Abendessen geputzt. Die viele Zeit, die Tausende Pendler im Zug verbringen, will ja auch genutzt sein. Mumbai ist Migrantencity. Und Mumbai ist eine Handelsstadt. Taschenbücher wie etwa die Topseller „Der weiße Tiger“ oder „Shantaram“ und Modezeitschriften werden am Taxifenster feilgeboten. Hirjas, die Eunuchen der Stadt, betteln im Zugabteil. Wer ihnen nichts gibt, wird mit einem bösen Fluch versehen.

Mumbai präsentiert sich für den Fremden nicht auf dem Silbertablett. Für viele Touristen ist die Stadt sowieso bloß Durchgangsstation. Das ist gemein und etwa so, als behaupte man, das Beste an Stuttgart sei die Autobahn nach München. Die Touristen fallen für ein oder zwei Nächte in Mumbai ein, trinken im Café Leopold und lassen sich am Colaba Causeway von Schmuckhändlern übers Ohr hauen. Die Menschen, die nach Mumbai ziehen, kommen wegen eines besseren Lebens, die Touristen aber, um weiterzureisen nach Goa, Kerala oder Hampi. In Mumbai trifft man Yoga-Jünger, Kreuzfahrt-Pauschaltouristen, Ayurveda-Fans und europäische Mittzwanziger, die Indien, sich selbst und vielleicht auch die Erleuchtung finden wollen. Aneesh aus meinem Hotel belächelt sie ein bisschen. Tatjana beispielsweise reiste drei Wochen durch Indien und erzählt beim Frühstück vom „incredible India“. Ja, sie nimmt den Werbeslogan der nationalen Touristikbehörde wirklich in den Mund. Mumbai aber, das wäre nichts für sie. „Das ist nicht Indien.“ Aneesh wackelt mit dem Kopf und lächelt. Er weiß es besser. „Mumbai ist sämtliche Indien“, schrieb Salman Rushdie.

Mumbai ist vor allem eine Stadt, die einen ständig fordert. In einem Moment ist man unfassbar wütend über die Armut und das Elend. Über die Ungerechtigkeiten. Gleich darauf gerührt und glücklich. Über die Freundlichkeit der Menschen. Wie überall hatte ich hier gute und schlechte Tage. Manchmal war es wahnsinnig anstrengend, ständig angestarrt und fotografiert zu werden, oft gehörte es aber einfach dazu. Wie der Lärm, die ständige Geräuschkulisse.

Sukhada erzählte mir von ihrer Cousine, die mit ihrem Mann nach Amerika ausgewandert ist. Dort in der Ferne habe sie zum ersten Mal ihren Bauch grummeln gehört. In Mumbai hört man sich selbst nicht. Man riecht sich auch nicht. Man nimmt sich selbst nicht so sehr wahr, weil man unterzugehen scheint in der Masse an Menschen. Über die Hälfte der Menschen hier ist jünger als 25 Jahre. Sie glauben an ihre Stadt. Und an sich. Die Stadt vibriert. Manchmal denkt man, sie explodiert im nächsten Moment. Es ist schon richtig, dass das literarische Stadtporträt „Bombay – Maximum City“ von Suketu Metha ein 725-Seiten-Wälzer ist. Die Stadt ist nicht zu fassen. Mit keinem Stadtplan der Welt. Und nach vier Wochen hier beschleicht einen das dumpfe Gefühl, sie noch viel weniger als zuvor zu verstehen. Mumbai ist der größte Kulturschock, den man sich vorstellen kann. Menschen, die ich in diesen vier Wochen kennengelernt habe, die davor in Delhi waren, fanden Mumbai geradezu grün und erholsam. Ich nicht. Ich war regelrecht schockiert. Mumbai war ein Angriff auf alle Sinne.

Mumbai ist eine Stadt, die einen anstrengt und aufwühlt. Aber auch fasziniert. Die Stadt bringt mich an Grenzen, von denen ich vorher gar nichts gewusst habe. Die Schönheit, man sieht sie doch. Und man glaubt jedem, der sagt, dass Bombay die beste Stadt der Welt ist. Auch wenn man nicht weiß, warum eigentlich. Vor meiner Reise hatte mich ein Freund, der schon sehr viel von der Welt gesehen hat und seit drei Jahren in Schanghai lebt, gewarnt: „Vier Wochen? Das ist viel zu kurz, um diese Stadt zu hassen.“ Ich habe vier Wochen gebraucht, um diese Stadt zu mögen.

Anja Wasserbäch
veröffentlicht am 2. Mai 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

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