Mumbai

Mumbai, 29.4.2011: Inderarbeit

 © Im Newsroom der Times of India © Foto: Anja WasserbächDie „Times of India“ ist die größte englischsprachige Tageszeitung der Welt. Hier im Newsroom ist die Arbeit wie fast überall. Außer dass oft geklatscht wird.

Zeitmanagement ist ein sperriges Wort. Auf einmal aber ist es so wichtig und nimmt einen so großen Platz ein. Über Pünktlichkeit hatte ich mir noch nie so viele Gedanken gemacht. Ich war es einfach. Punkt. Rachel und ich sind die einzigen Weißen hier in der Redaktion der „Times of India“. Rachel, eine Engländerin, liebt es, in Mumbai zu arbeiten. Während sie in London zwei Wochen im Voraus mit ihren Freunden einen Termin finden muss, um sich auf einen Drink zu verabreden, weiß sie hier nicht, was sie am Abend machen wird. Ähnlich ist es mit dem Journalismus hier. Wer weiß schon heute, was morgen sein wird? Und überhaupt: Klappt das Interview? Irgendwie schon.

Es ist ein Termin wie jeder andere. Ein Hintergrundgespräch. Telefonisch vereinbaren? Funktioniert nicht, der Chef sei nicht da, sagt einer der Angestellten. Also gehe ich persönlich vorbei. Chef nicht da. Ich bitte den Angestellten, er solle dem Chef ausrichten, ich käme morgen wieder. Gegen 8.30 Uhr. Geht nicht, sagt der Angestellte, er dürfe nicht mit dem Chef reden. Das Kastenwesen ist gesetzlich verboten. Eigentlich. Ich frage einen anderen, der richtet es ihm aus. Und ja, der Chef ist dann da am nächsten Tag. Und was mache ich? Ich warte. Minuten. Eine Stunde. Der Wassermelonensaft ist schon lange ausgetrunken. Wer in Mumbai arbeitet, muss sich umstellen und entwickelt auf einmal so viel Geduld, von der man gar nicht wusste, dass man sie überhaupt hat.

Es ist 19.45 Uhr. Alle klatschen im Newsroom der „Times of India“. Bis auf Mansi. Ihr fiel die Tastatur auf den Boden, die auf der Ausziehfläche unter dem Schreibtisch liegt. Niemand weiß, woher dieses Ritual kommt. Aber es ist vermutlich das einzige, das sich jeden Tag wiederholt. Fällt etwas auf den Boden, wird geklatscht.

Die Redaktion der „Times of India“ liegt mitten in Mumbai gegenüber dem Victoria-Bahnhof, der im November 2008 auch Ziel der Terroristen war. „Es war ein harter Tag“, sagt Derek D’sa. In den darauffolgenden Tagen war die Stimmung in der Redaktion angespannt, verängstigt, aber auch geschäftig. Es wurden Feldbetten aufgestellt, für die Redakteure, die es nicht aushalten konnten, nach Hause zu gehen und mit ihrer Familie über die Ereignisse zu sprechen. „Wir haben irgendwie ein System gefunden, wie wir mit solchen Extremsituationen umgehen“, sagt D’sa.

Derek D’sa ist „Assistant Executive Editor“, also so etwas wie der stellvertretende Chefredakteur. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Er entscheidet, welche Geschichte auf welcher Seite erscheint und in welcher Größe. In Mumbai arbeiten rund 150 Reporter, Redakteure und Blattmacher. In Delhi ein bisschen mehr. In ganz Indien beschäftigt die „Times of India“ über 1000 Menschen in den Redaktionen. „Wir haben das größte Netzwerk des Landes mit den besten Reportern“, sagt Derek D’sa. Und meint es wahrscheinlich auch so.

Es sind viele Menschen hier im Newsroom. Sehr viele. Es wird viel getippt. Aber nicht nur auf der Computertastatur. Das Handy ist noch viel mehr Kommunikationsmittel als in deutschen Redaktionen. Wer unterwegs ist, schickt seinem Ressortleiter von unterwegs eine SMS, dass der Artikel eine Geschichte ist. Oder auch keine. Hier im Newsroom klingeln viele Handys und natürlich reguläre Telefone. Die Redakteure im Newsroom sitzen in Reihen. Wie in den Schreibstuben eines Handelskontors. Es gibt eine Art Ressort „Buntes und Vermischtes“, das Feature heißt. Zu acht sitzen sie hier. Alles Frauen, bis auf einen. Sie beliefern auch die Sonntagsausgabe mit Artikeln und Kolumnen. Sie bloggen für die Homepage. Jeder in seinem Spezialgebiet.

Jeder der Redakteure spricht Minimum drei Sprachen, darunter sind immer Englisch und Hindi. Denn ohne Hindikenntnisse wiederum kann man in Mumbai kaum recherchieren. Und jeder der Redakteure liest am Morgen mindestens drei Zeitungen quer. Die Redakteure der News- Seite doppelt so viele. Um Bescheid zu wissen. Obwohl in Indien 25 Prozent der Bevölkerung weder lesen noch schreiben können, haben Zeitungen einen hohen Stellenwert hier. Billig sind sie außerdem: Eine Ausgabe der „Times of India“ kostet fünf Rupien, was umgerechnet gerade mal acht Cent sind. Eine Zeitungskrise wie Europa oder Amerika kennt man hier nicht.

Das Internet, das in den Städten Indiens gebraucht wird wie überall auf der Welt, ist noch keine Konkurrenz für die Printmedien. „In Indien lernen immer mehr Leute Englisch, das bedeutet auch immer mehr Leser“, sagt D’sa. Jeder, der es sich leisten kann, hat mehrere Zeitungen abonniert. Aber auch die Unterschicht liest täglich auf Papier. Man erzählt sich, was in der Zeitung stand. Zeitung lesen und die haptische Erfahrung dabei sind hier eine Tradition, die man nicht missen will.

Handys klingeln, SMS werden geschrieben. „Geht deine Geschichte noch morgen mit?“, ruft einer über die Reihen hinweg. Es wird darüber gestritten, wie man einen Namen nun denn buchstabiert. Es ist alles wie immer. Und wie in jeder Redaktion. Dann fällt eine Tastatur zu Boden. Und alle klatschen.

Rachel liebt dieses Lebensgefühl. Dieses Spontane und auch das Ungewisse. Sie schaut traurig aus, als sie sagt, dass im Juli ihr Visum ausläuft. Sie habe so viel gelernt hier. Auch ein bisschen Hindi. In dieser Sprache gibt es übrigens das Wort „kal“. Je nach Satzumfeld verändert sich die Bedeutung. Im Deutschen unvorstellbar: Das Wort kann gestern heißen oder eben auch morgen.

Anja Wasserbäch
veröffentlicht am 29. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

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