Mumbai, 23.4.2011: Glauben ist alles

Es ist einer der vielen Plätze in der Stadt, an dem die Diskrepanz von Tradition und Moderne sehr stark deutlich wird. Inmitten von Wolkenkratzern am südlichen Zipfel der Stadt gibt es den Banganga Tank. Das ist heiliges Wasser in Beton. Drum herum steht ein kleines Dorf inmitten der Großstadt. Ein Tempel am anderen. Wir nähern uns dem Tank, dem heiligen Wasser, in das Jungs zum Baden springen. Kinder kommen, reden Englisch, wollen Schokolade und Geld, aber eigentlich nur ein bisschen schauen. Auch ich schaue und staune. Über die vielen kleinen Tempel, über die Farbenpracht und die freundlichen Menschen. „Namaste“, sage ich. Eine alte Frau bittet mich herein. Artig ziehe ich die Schuhe aus und bestaune den Tempel, der von einem Mädchen mit Blumen geschmückt wird. Ganesh, der Gott mit dem Elefantenkopf, ist mal wieder der Topstar hier. Die Hindus haben aber viele Götter. Wie viele genau, kann mir niemand sagen. Die meisten Mumbaikar sind Hindus. Doch Mumbai ist die Stadt, in der es von allem viel gibt: viele Menschen, viele Glauben. Gebetet wird immer und überall. Eine Kuh zieht einen Schrein hinter sich her. Frauen kommen vorbei, legen Blumengebinde zu Füßen von Ganesh und beten. Tempel to go quasi. Auf dem Weg ins Büro gehört das Gebet dazu wie der Chai Massala an der Straßenecke.
Es gibt aber nicht nur Hindus hier, sondern auch Moslems, Sikh, Jain – und Parsen. Sunil (selbst Hindu) erzählt mir die Geschichte der Parsen. Sie kamen zu Reichtum in der Stadt, weil sie gut Englisch sprachen und mit den Briten zusammenarbeiteten. Es gibt aber nicht mehr viele Parsen in Mumbai. Rund 70 000, schätzt Sunil. Parsen heiraten, wenn überhaupt, sehr spät, bekommen wenig Kinder. Das Ergebnis sind Erbkrankheiten.
Ich stehe vor den Türmen des Schweigens, nicht weit entfernt vom Banganga Tank. Hinein darf niemand – außer den toten Parsen. Über den Türmen kreisen keine Geier. Ich erinnere mich an eine Anekdote von Rudyard Kipling, der nicht nur „Das Dschungelbuch“ hier geschrieben hat. Als der kleine Rudyard mit seiner Mutter oben auf dem Malabar Hill spazieren ging, landete ein Fleischbrocken vor ihnen – ein Geier hatte ein Stück Oberschenkel fallen lassen. Die Parsen legen ihre Toten ab und lassen sie von Geiern beseitigen. Die Geier sind vom Aussterben bedroht wie die Parsen selbst. Die Vögel werden nachgezüchtet.
Die Megacity Mumbai ist ein einziger Glaubensdschungel. Bhuleshwar zum Beispiel ist ein kleines Viertel oberhalb des Crawford Market. Ein Wirrwarr aus vielen Sträßchen und noch mehr Religionen. Wir stolpern von Glauben zu Glauben – und wären ohne Soliman (ein Moslem), der sich uns charmant ungefragt angeschlossen hat, aufgeschmissen. Er führt uns zu einem hinduistischen Gottesdienst, dann zum wunderschönen Jain-Tempel, der sich im Aufbau befindet. Und das wahrscheinlich noch sehr lange: Steinmetze klopfen die feinen Muster in den weißen Marmor. Rein dürfen nur Jainas. Die wiederum sind Pazifisten und mehr als Vegetarier. Sie essen kein Gemüse, das unter der Erde gewachsen ist. Beim Herausziehen der Karotte könnte ja ein Insekt gestorben sein.
Hier in Mumbai gibt es auch noch ein paar Christen. Margareth ist Katholikin. Eigentlich hatten wir uns zum Abendessen verabredet, weil aber Sonntag ist, müsse sie noch kurz in die Kirche. Der Pfarrer baut in seiner Andacht neben der Katastrophe von Japan noch Cricket mit ein. Und er kann sich über ein volles Haus freuen: Mädchen in High Heels, Frauen in Saris und ein Typ im Liverpool-Fan-Shirt – Religion gehört zum Alltag. Ist kein Plätzchen auf den Bänken mehr frei, wird eben gestanden – bis hinaus vor die Tür. Davon können die Kirchen in Deutschland nur träumen.
Im Glaubensdschungel Mumbai sehe ich immer wieder Männer mit knallroten Haaren. Vor lauter Überdosis an Religiosität halte ich sie für irgendeine spezielle Glaubensrichtung. Sukhada lacht über meine These und sagt: „Das machen die nur, um ihre grauen Haare zu übertünchen.“
veröffentlicht am 23. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.