Mumbai, 19.4.2011: Liebe und andere Schwierigkeiten

Wer in Mumbai weiblich und ledig ist, hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Und führt meistens ein Doppelleben. Nennen wir sie Priya. Hier in Mumbai würde keine der Frauen, die ich kennengelernt habe, öffentlich über ihr Liebesleben sprechen. Priya ist 26 Jahre alt, sie trägt meistens Jeans, manchmal eine Kurta, einen bunten, glänzenden Sari nur zu besonderen Anlässen, etwa dann, wenn sie zu einer indischen Hochzeit eingeladen ist. Die Zehennägel sind dunkelblau lackiert. Sie ist Hindu, praktiziert den Glauben aber nur zu Anlässen wie dem bunten Holi-Festival oder dem Neujahrsfest, Gudhi Padwa.
Priya hat einen Freund. Sie hat ihn über Freundinnen kennengelernt. Seit zwei Jahren gehen sie miteinander. Man muss es wirklich so nennen: Sie gehen ins Kino, gehen essen, gehen an den vermüllten Strand Chowpatty Beach, der von den Mumbaikars liebevoll die „Halskette der Königin“ genannt wird. Ihre Eltern und auch seine Eltern wissen nichts von der Beziehung. Würden sie davon erfahren, müssten die beiden sofort heiraten, wenn die Eltern einverstanden wären. Immerhin sind beide Familien Hindus. Ein Vorteil. „Es würde nie und nimmer möglich sein, dass ich mit einem Moslem zusammen wäre“, sagt Priya. Sie wolle dies auch nicht unbedingt. Moslems könnten ja mehrere Frauen haben. Zusammenleben ohne Trauschein? Es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch im modernen Mumbai, in einer Stadt, in der doch so viele westlich sein wollen. Priya erzählt mir verschiedene Beispiele aus dem Freundeskreis. Ein Mädchen sollte mit 20 verheiratet werden. Sie flüchtete ins Ausland, um dort zu studieren.
Neha und Rahul wiederum sind ein Paar und leben ungewöhnlicherweise schon seit einem Jahr zusammen. Beide sind zum Studieren nach Mumbai gekommen, was ihnen die Flucht aus dem Elternhaus ermöglichte. Und sie bedienen sich eines Tricks. Offiziell leben sie in einer WG mit Freund und Freundin, die wiederum auch ein Paar sind. Immer wenn sich die Eltern zu einem Besuch ankündigen, muss alles umarrangiert werden. Der Inhalt der Kleiderschränke sowie Kosmetikartikel im Bad ausgetauscht werden, damit der Schwindel nicht auffliegt. Die Generationenkonflikte im Mumbai der Gegenwart sind trotz allem kosmopolitischen Auftretens extrem. Frauen Mitte 20 wollen manchmal leben wie im Westen, sind aber noch sehr in ihrer Tradition verankert. Der Wandel zeigt sich jedoch darin, wie arrangierte Hochzeiten vonstatten gehen. Eltern suchen inzwischen bereits online nach geeigneten Partnern für ihre Kinder. Die Kriterien sind neben Religion auch Hintergrund und Herkunft. Das ist in etwa so, als dürfe man sich nicht über die Grenzen Baden-Württembergs hinweg verabreden. Vor gerade mal 30 Jahren mussten Frauen noch Probe kochen, Probe nähen, einmal Schaulaufen und damit zeigen, dass alle Knochen heile sind, um das Okay von den Bräutigamseltern zu bekommen. Gesehen hat sich das zukünftige Ehepaar meistens erst am Hochzeitstag. Heute dürfen sie schon vorher miteinander reden und sich beschnuppern. Manche entscheiden natürlich auch einfach selbst.
Junge Inderinnen kämpfen derzeit um ihren Platz in der Gesellschaft. Die Emanzipation wurde einfach übersprungen, viele sind trotzdem in westlichen Welten angekommen. Zumindest was das Aussehen und die Liebe angeht. Sie wollen ihre Freiheit, kämpfen aber nicht öffentlich dafür. Mumbai fehlt es an vielem. Auch an öffentlichen Plätzen für Paare. Am Marine Drive sitzen Pärchen auf der Mauer, für Händchen halten kann es Verwarnungen von der Polizei geben. Küssen in der Öffentlichkeit? Pure Sünde. Die Shiv-Sena-Partei regiert mit harter Hand. Valentinstag und ähnliche westliche Inventionen werden boykottiert. So treffen sich die Paare am Straßenrand auf dem Weg in den Stadtteil Bandra. Sie sitzen auf Mopeds und reden. Das ist ungefähr so romantisch wie auf dem Seitenstreifen der B 27 ein Date zu haben. Oder sie sitzen auf den Klippen am Strand von Bandra. Manche unterschätzen die Flut, werden von den Wellen mitgerissen und in den Tod gespült. Dann erfahren die Eltern auf traurige Weise vom Doppelleben ihrer Kinder.
veröffentlicht am 19. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.