Mumbai, 11.4.2011: Die innere Unsicherheit

Ein Tag wie jeder andere. Sukhada Tatke war bei der Arbeit. In der Redaktion der „Times of India“. Der Arbeitstag ging zu Ende, bald war Andruck der morgigen Ausgabe. Sie rief ihre Mutter an, dass sie bald nach Hause komme. Sie wollte noch kurz etwas essen und ging in die Kantine. Als sie um 22.12 Uhr zurück am Arbeitsplatz im dritten Stock ist, sieht sie, wie ein Fotograf und die Sekretärin des Chefredakteurs aufgeregt herumspringen. Von Schüssen im Bahnhof, der gleich gegenüber des Pressehauses liegt, ist die Rede, Sukhada solle nachschauen. Sie betritt Plattform 1. Sie sieht verängstigte Polizisten, Menschen flüchten. Nur weg hier. Sie hört Schüsse, die immer lauter werden. Eine Granate explodiert. „Der Queen Victoria Bahnhof trägt ein weißes Leichentuch, das bald rot gefärbt sein wird“, schreibt sie eine Woche später ihre Erlebnisse nieder. Sie rennt zurück ins Büro. Versteckt sich mit den Kollegen unter den Fenstern mit den Lamellenvorhängen. Sie hat zwei der Attentäter gesehen. Auch das Babygesicht des einen, das vor Selbstbewusstsein strotzte.
Es ist der 26. November 2008 in Mumbai. Der Tag, der als 11. September Indiens in den Zeitungen beschrieben wird. Bei den Anschlägen in Mumbai gab es 239 Verletzte und 174 Tote. Bomben explodierten, Menschen wurden erschossen, viele wurden als Geiseln genommen. Später stellte sich heraus, dass angeblich eine Terrorgruppe namens Deccan Mujahideen dahinter steckt. Heute ist das nicht mehr wichtig. Die Anschläge schon. Zehn verschiedene Orte der Stadt wurden attackiert – darunter auch das berühmte Taj Mahal Palace & Tower Hotel, das Touristencafé Leopold und der Chhatrapati Shivaji Terminus, der früher Victoria Terminus hieß und Weltkulturerbe ist.
Es gibt kaum ein Gespräch, das ohne dieses traurige Kapitel der Stadt auskommt. Es ist immer noch präsent. Jeden, den man trifft und mit dem man über das übliche Smalltalk-Thema Hitze hinaus kommt, spricht irgendwann über „twentysix, eleven“, den 26. November 2008.
Man kommt an vielen Stationen vorbei, die damals in den Aufmacherbildern der Zeitungen zu sehen waren, passiert das Taj-Mahal-Hotel, in dem die Geiseln gefangen gehalten wurden.
Es ist früher Morgen im Leopold, der Touristenkneipe im Altstadtteil Colaba. Ein paar Rucksacktouristen frühstücken am Nebentisch, die Ventilatoren kämpfen gegen die warme Luft, die direkt unter der Decke klebt. Vor der Tür stehen sechs Polizisten, ein Sicherheitsmann kontrolliert jede Tasche. Teilnahmslos lassen die Gäste die Kontrollen über sich ergehen. Es ist der Alltag, der nicht mehr derselbe ist.
Im Leopold nahm der Terror seinen Anfang. „Es waren nur zwei Minuten“, sagt der Besitzer Farhang Jehani, „mir kamen sie vor wie zwei Stunden.“ Zwei Männer zündeten eine Handgranate und schossen um sich. „120 Schüsse in zwei Minuten“, sagt Jehani. Er zeigt mir viele Löcher in den Wänden, ein Spiegel ist zersprungen, ein Loch wird von einem Bild verdeckt, im Boden unter einem Tisch sieht man die Kuhle, die die Handgranate hinterlassen hat. Er will die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag nicht zuzementieren, nicht ausbessern, nicht überpinseln. Sieben Menschen starben, elf wurden verletzt. Die Täter ziehen weiter ins Taj-Mahal-Hotel, vielleicht fünf zackige Fußminuten entfernt. Höchstens.
Hier ist die Erinnerung an die Anschläge dezenter als im Leopold. In der Hotellobby entspannen luxusverwöhnte Hotelgäste auf bequemen Sofas. Japanische Geschäftsfrauen huschen vorbei, eine muslimische Großfamilie checkt ein. Es riecht nach Melisse. Neben dem Wasserfall im Wintergarten ist eine Marmorplatte aufgestellt. In Goldschrift sind die Namen der Toten eingraviert.
Wer hinein möchte ins Taj, muss durch die Kontrolle. Das gehört hier zum Alltag. Rund 40 Prozent des Gebäudes wurden zerstört, weitere 20 Prozent beschädigt. Nach nur 25 Tagen wurde das Turmhaus wieder geöffnet, von überall aus der Welt checkten die Gäste ein. „Wir bekamen wirklich viel Unterstützung“, sagt Nikhila Palat, Pressefrau des Taj. Vergangenen Sommer wurde das ganze Haus wieder eröffnet. Am Unabhängigkeitstag Indiens. „In den Herzen der Leute ist immer eine positive Erinnerung an das Haus verankert“, sagt Palat. Man glaubt es ihr. Bestaunt die prominente Gästeliste von Barack Obama über John Lennon bis Nicolas Sarkozy. Heute sei fast alles wieder Business wie immer, sagt Palat. Und: „Das ist eben der Geist von Mumbai. Wir lassen uns nicht unterkriegen.“
Im Bahnhof Victoria Terminus wurde vor einem Monat eine Uhr gefunden, die um sieben Minuten vor zehn stehenblieb, als eine Kugel das Glas zerbrach und im Innern stecken blieb. Es war der 26. November 2008. Irgendwie hat für alle danach eine neue Zeitrechnung begonnen, an dem der Alltag weiterging. Irgendwie.
veröffentlicht am 11. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.