Mumbai

Mumbai, 7.4.2011: Die Touri-Tour durch Slumbai

 © Mumbai ist nicht nur Boomtown, sondern vor allem auch Slumbai. Über die Hälfte der Menschen hier lebt in Slums. Touristen können sogar eine Tour durch Dharavi buchen, die sich als gar nicht so voyeuristisch wie befürchtet herausstellt.

Boot lächelt. Fast schon selig. Er sitzt auf einem umgedrehten Eimer. In der rechten Hand einen Spachtel, vor ihm Plastik und Aluminiumbehälter. Sein Job: das Säubern von Lackeimern. Vielleicht wird er es noch weiterbringen. Zu den Webern beispielsweise. Oder vielleicht sogar raus aus Dharavi? Das schaffen die wenigsten der Bewohner. Boot ist ein Rädchen in einer riesigen Maschine. Mit einem kleinen Spachtel geht er vor. Es dauert Ewigkeiten, bis die Lacke weggepult sind. Seine Hände sind schwarz von der Arbeit. Die Luft ist schwer vom Dunst der Lacke und anderen Stoffen, die wahrlich nicht gesund sind. Dennoch hat Boot einen gewissen Stolz. Er hat seine Arbeit. Sein Einkommen. Dharavi ist der größte Slum Asiens. Mehr als eine Million Menschen leben hier auf engem Raum, um den herum Mumbai rasant wächst. Das Erstaunlichste ist: In Dharavi werden jährlich 665 Millionen US-Dollar umgesetzt. Wir werden heute viel lernen, vor allem welches Wirtschaftswunderland hinter Dharavi steckt.

Vier Deutsche haben sich zu einer Slum-Rundfahrt mit Reality-Tours entschieden. Einer Non-Profit-Organisation, die vor fünf Jahren von einem Engländer und einem Inder gegründet wurde. Wir Fremden stehen dieser Tour mit zwiespältigen Gefühlen gegenüber. „Das hat schon Zoocharakter“, sagt Claudia, eine hanseatische Hotelmanagerin. Sie ist unerschrocken und reist mit einer Freundin, die ebenfalls Claudia heißt, im Schnelldurchlauf durch Indien: Neu-Delhi, Mumbai, Goa und wieder zurück. Das Paar aus Hannover reist am nächsten Tag weiter nach Südindien: Kerala, Backwater und Co. Eine Kultur- und Naturreise, bloß kein langweiliger Strandurlaub. Heute steht aber erst einmal die Slum-Tour auf dem Programm. Irgendwelche Skrupel? Letztendlich siegt die Neugierde. Wir sitzen im Auto mit Sunil, unserem Guide, der sehr sanft spricht, jede Frage auch gerne zweimal beantwortet und zu nichts Nein sagen kann. Wir haben die „lange Slum-Tour“ gebucht. „Ehrlich gesagt, weil mich die eigene Anreise an die Bahnstation abgeschreckt hat“, gibt Thomas aus Hannover zu.

Also sehen die Touristen noch andere Stationen im Schnelldurchlauf. Das Rotlichtviertel, die riesige Open-Air-Wäscherei Dhobi Ghat. Vor allem aber: Dharavi. Vor den ersten Schritten in den Slum gibt Sunil Anweisungen für die neugierigen Touristen. Keine Fotos! „Und auch wenn es mal streng riecht, bitte rümpft nicht die Nase oder zieht Grimassen. Das hat etwas mit Respekt zu tun.“ Die Gruppe nickt artig. Alle haben sich entsprechend gekleidet und zeigen keine nackten Beine. Nicht wie das Mädchen einer anderen Gruppe, das uns in Spaghetti-Trägertop und Miniröckchen entgegenkommt.

Wir versuchen nicht in Dreckpfützen zu treten, laufen Slalom zwischen Ziegen und vielen, vielen Menschen. Wir zwängen uns durch Gassen, die nichts für Menschen mit Platzangst sind. Zwei Leute passen nur schwerlich aneinander vorbei. Vor allem aber will man den Slum-Bewohnern nicht im Weg stehen, weil sie so geschäftig sind. Ganz Dharavi ist eine einzige menschliche Recyclingmaschine. Der Müll von Mumbai wird hier wiederverwertet. Aluminium wird geputzt, geschreddert, geschmolzen, Elektroschrott in seine Teile zerlegt. Es gibt Bäckereien, in denen der Ofen nie ausgeht. Die Lederindustrie ist riesig, es wird Seife, Kleidung, einfach alles hergestellt. Es gibt hier nichts, was es nicht gibt. Nur einen Mangel an Toiletten.

Die Lebensbedingungen im Slum sind hart. Elf, zwölf Menschen schlafen in Räumen, die gerade mal acht Quadratmeter groß sind. Viele der Hütten haben kein fließend Wasser oder Strom. Von einer Toilette können die Bewohner nur träumen. Und dennoch: Lokalpatriotismus verbindet sie alle. Ob Hindus, Christen oder Muslime. Kinder spielen Cricket oder mit unechten Geldscheinen, auf die Bollywood-Stars gedruckt sind, oder mit Handys. Sam, ein 17-jähriger Junge, zeigt sie uns und versucht mit uns zu reden: Er will sein Englisch verbessern. Bildung zählt viel in Indien. Auch im Slum. Mädchen in Schuluniformen kreuzen unseren Weg. „Hi, hi“, rufen sie, lächeln, winken und wollen uns die Hand schütteln. Niemand bettelt. In Dharavi ist Arbeit ein hohes Gut. Das höchste. Sunil meint, dass ein durchschnittlicher Job hier zwischen 5000 und 6000 Rupien im Monat einbringt. Umgerechnet knapp 100 Euro, was für indische Verhältnisse wenig ist, aber fürs Leben im Slum reicht. Die Miete für eine Hütte in Dharavi kostet zwischen 1500 und 3000 Rupien. Oft sind die Bewohner die Eigentümer. Bezahlt wird für die Nutzung des Grundstücks.

Um das Gewissen zu beruhigen, endet die Tour in einer Schule, in der die Slum-Bewohner Englisch- und Computerkurse belegen können. Der Kindergarten hat heute geschlossen. Alles finanziert durch Touren wie die Dharavi-Slum-Tour. Die Hamburger Frauen kaufen T-Shirts und Postkarten. „Mein Mitleid hat sich verringert“, sagt Thomas, „ich dachte, die sitzen rum und vegetieren vor sich hin.“ In vier Stunden hat er gesehen, welche Wertschöpfungskette sich unter den Wellblechdächern befindet. „Man merkt, dass die Menschen, die hier leben, stolz darauf sind, dass sie Arbeit haben“, sagt eine der Claudias. „Dharavi ist ihr Zuhause“, sagt Sunil. „Darauf sind sie stolz.“ Auf seinem Shirt steht. „I love Dharavi“, wie man es von Touri-Shirts mit New York oder London kennt. Bei Sunil spüren wir: Er meint es auch so.

Anja Wasserbäch
veröffentlicht am 07. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

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