Mumbai

Mumbai, 1.4.2011: Inderwahnsinn

 © © COLOURBOXIndien schlägt seinen Erzrivalen Pakistan im Halbfinale der Cricket-Weltmeisterschaft. Am Spielfeldrand geht es aber auch um Politik der verfeindeten Nationen.

Die Inder haben viele Götter. Heute heißt der Wichtigste aber nicht Ganesh, Shiva, Vishnu oder Lakshmi, sondern Sachin Tendulkar. Er trägt Royalblau, die Nummer 10 auf dem Rücken und ein Lederhütchen, das ihn wie Indiana Jones aussehen lässt. Indie Jones quasi. „Cricket ist unsere Religion“, sagt meine Kollegin Sukhada Tatke gegen Ende des Spiels, also ungefähr nach sieben Stunden. Nach einer weiteren Stunde geht Indien als Sieger hervor und steht am Samstag gegen Sri Lanka im Finale der Weltmeisterschaft. Heute am Halbfinaltag geht nichts in der Stadt. Gar nichts. Alle schauen Cricket.

Was für ein tolles Bild, was für ein befreiendes Gefühl: keine verstopften Straßen, nur ein bisschen Lärm. Viele haben frei bekommen, manche nehmen sich die Freiheit, nicht bei der Arbeit zu erscheinen. Sogar die Polizisten und Bettler am Straßenrand verfolgen das Spiel über tragbare Radios. Im Fernsehen tragen die Moderatoren Nationaltrikots, die Cricket-Superstars wie etwa Mahendra Singh Dhoni sagen in Interviews Sätze wie: „Einer wird gewinnen.“

Das Halbfinale der Cricket-Weltmeisterschaft ist ein historisches Ereignis, es ist das Ereignis des Jahres schlechthin. Der Korruptionsskandal in der indischen Regierung kann hintangestellt werden. Die neue Biografie über Mahatma Gandhi, die enthüllt, dass Gandhi einen deutschen Liebhaber gehabt haben soll? Geschenkt. Kann alles warten. Bis nach dem Tag X.

Zwischen Indien und Pakistan geht es diesmal nicht um Kaschmir, sondern um Cricket. Und am Spielfeldrand auch um Politik. Die zwei Staaten, die bis 1947 eine Einheit waren, nähern sich mit der Begegnung wieder einander an. Zum ersten Mal nach den Terroranschlägen in Mumbai im Jahr 2008 wurde ein pakistanischer Regierungschef nach Indien eingeladen. Bevor Pakistans Premierminister Yousuf Raza Gilani neben dem indischen Kollegen Manmohan Singh auf der Tribüne in der nordindischen Stadt Mohali Platz nimmt, haben sich die beiden darauf geeinigt, dass sie nun den Friedensdialog weiter vorantreiben. Das ist sie, die „Cricket-Diplomatie“.

Mein persönliches Problem mit dem Sport Cricket: Es dauert zu lange. Die Regeln, die denen im Baseball ähneln, werden mir zwar so langsam klarer, aber nicht ganz durchschaubar. Mir wird erzählt, dass mal eine Cricket-Kurzversion eingeführt wurde, die nur drei Stunden dauerte. Das wollte aber niemand sehen. Deshalb dauert’s eben wieder etwas länger, was hier „One-Day-Cricket“ heißt. Und an diesem „Ein-Tag-Cricket“ ist es nun mal nicht so, dass man die ganze Zeit an einem Ort verweilen könnte. Die ersten Stunden verfolgen wir im Newsroom der „Times of India“, dann geht’s in den nahe gelegenen Presseclub. Da ist Public Viewing für Journalisten. Es gibt „spicy chicken“ und Kingfisher-Bier. Gefühlt alle drei Minuten kommt Werbung für Softdrinks, Mittelklasseautos und amerikanische Sportbekleidung. Zwischen den Spots gewinnen letztendlich die Männer in Blau.

Das Land, das zum einzigen Mal 1983 Weltmeister wurde, freut sich über den Einzug ins Finale. Feuerwerksraketen steigen in den Nachthimmel über Mumbai, die Menschen tanzen auf der Straße. Es gibt etwas, das man vielleicht Autokorso nennen kann, nur dass die meisten mit Mopeds unterwegs sind. Gefeiert wird auf dem Marine Drive, an der Strandpromenade. Hier bricht auch an normalen Tagen ohne Cricket-Wahnsinn der Verkehr zusammen. Gehupt wird sonst auch immer überall, als wäre Indien ins Finale eingezogen. Heute ist es zumindest angebracht. „Go, India go“, schreit die Menge. Am Samstag ist das Finale in Mumbai. Die USA haben eine Reisewarnung ausgesprochen. In der Stadt wird die Polizeipräsenz erhöht. Ach, Ganesh wird schon auf mich aufpassen.

Anja Wasserbäch
veröffentlicht am 01. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

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