Mumbai, 27.3.2011: Im Bus nach Bollywood

Es heisst immer, dass das Leben als Schauspieler oder Model sehr langweilig sei, weil man die meiste Zeit herumsitzt und wartet. Stimmt. Wer einmal als Statist in einem Bollywood-Film mitgemacht hat, weiss, dass sie recht haben. Jeder der 23 Touristen, der an diesem Morgen um acht Uhr vor dem McDonalds in Colaba steht, wurde am Tag zuvor angesprochen: “Do you wanna be in a Bollywood movie?” Geld und Essen gebe es auch. Manchen wurde versprochen, dass ihre Haare gefönt und das Gesicht geschminkt werden würde.
Da schwitzen wir also in einem Bus. Die Weltenbummler und Sinnsuchenden, die Indieninspirierten und Goa-Touristen. Für die meisten ist Mumbai nur eine Durchgangsstation, für viele ist das Angebot verlockend. Nicht des Essens wegen oder der 500 Rupees. Sie erwarten eine andere Erfahrung. Eine, die in keinem Touristenführer zu finden ist. „Das ist doch lustig“, sagt ein Schotte.
Schon der Morgen beginnt mit dem, was wir die folgenden dreizehn Stunden am häufigsten machen werden: Wir warten. Polen, Schweden, Deutsche, Holländer, Engländer und Schotten warten auf die eine Freundin der Engländerin, die doch auch noch mitfahren wollte. Dann in den Studios in Bandra angekommen, heisst es wieder warten. Auf die Kleider. Ich weigere mich das sehr kurze, rote Kleid anzuziehen, die Engländerin hat kein Problem damit: „Ach, was soll’s”, sagt sie. “Wir sind ja nur am Set.” Ich stecke in einem hellblauen Schlauch, aus Polyester, der nach altem Schweiß riecht. Keine der Statistinnen hat ein Kleid in ihrer Größe bekommen. Die Stoffe spannen am Bauch, pressen Brueste zusammen. Passende Schuhe dazu gibt es nicht. Wir behalten die eigenen an- und tragen eben Trekkingsandalen oder Turnschuhe zum angeblichen Abendkleid.
So billig die Klamotten auch wirken, das Set kann sich sehen lassen. Heute wird eine Casinoszene gedreht. Die Lampen funkeln, es gibt Roulettetische, Spielautomaten, eine Wechselkasse, Bars und samtene Sessel. Mädchen mit Mickymaus-Ohren, Corsagen und Miniröcken sehen aus wie ein Mix aus Playmate und Christina Aguilera. Die Szene soll in Hongkong spielen, deshalb stehen an den Tischen auch ein paar asiatisch aussehende Menschen, zudem wurden Farbige und eben wir Westler gecastet. Es gibt viele Menschen hier am Set. Um die 150 sind es mindestens. Manche schleppen Kabel, bauen das Set um, sammeln Roulettechips ein oder bringen dem Koloss von Regisseur eine Tasse Tee. Die meisten sitzen herum und warten auf irgendetwas. Vielleicht auf die Story des Films. Es sei eine romantische Komödie, erklärt einer.
Der Star der Show ist aber Mallika Sherawat. Im Gegensatz zu uns ist sie perfekt geschminkt, und trägt ein pinkfarbenes Glitzeroutfit. Eine Stylistin zupft an ihren Haaren, eine Choreographin probt die Szenen immer wieder mit den zwei Dutzend Tänzern. Sie bewegen sich natürlich alle perfekt und nicht so steif wie Toby aus London. Gestern in Mumbai gelandet, heute schon im Bollywood-Studio. Das habe er sich nicht vorstellen koennen. Der 19-Jaehrige wird die naechsten fuenf Monate durch Indien reisen. Danach geht es los mit dem Studium im schottischen St. Andrews.
Er findet es lustig, so nah dabei zu sein. Auch wenn man die meiste Zeit wartet. Ein paar der Statisten geben auf und verzichten auf den Lohn. Manche lesen, essen, rauchen und warten. Vor allem aber reden sie. Gavin ist der Star der Possen. Der grosse Englander traegt einen lachsfarbenen Anzug und ein hellblaues Hemd, auf dessen Rückseite ihm in irgend einer Pause ein Vogel gekackt hat. Dazu eine Krawatte, auf der Pinguine und Tannenbäume zu sehen sind und die eher nach Weihnachten als nach Bollywood aussieht. Überhaupt: Die Europaer wirken recht deplaziert und fühlen sich auch genau so. Wir hören trotzdem auf die Anweisungen: „Energy boys, power girls.“ Oder: „When the music starts everyone dance“. Und: „Enjoy!“ Heute werden 20 Sekunden eines Fünf-Minuten-Songs gedreht. Es ist ein langer 12-Stunden-Tag, an dem man den Ohrwurm nicht mehr aus dem Kopf bekommt. „Es könnte schlimmer sein“; sagt Sien aus Holland. „Immerhin dürfen wir tanzen.“
Das Set eines Bollywood-Films hat rein gar nichts glamouröses und ist dennoch „viel besser als immer nur Museen und Tempel anzuschauen“; sagt Sien. Die Bezahlung von 500 Rupees für 12 Stunden Langeweile wird auch sogleich investiert. In Bier im Café Leopold. Und es wird angestoßen. Auf den großen Tag. Toby hebt das Glas und sagt: „There is no business like show business.“
veröffentlicht am 27. März 2011 in der Times of India und am 5. April 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.