Nürtingen

Nürtingen, 13.4.2012: Das doppelte Neujahrsfest

 © © COLOURBOX.COMNehmen wir einmal an, Sie könnten Neujahr zweimal feiern – im selben Jahr. Unmöglich? Keineswegs, jedenfalls nicht in Indien.

Für viele indische Bundesstaaten fällt der Neujahrstag auf den 14. April, den ersten Tag des Monats Baisakh (April/Mai) nach dem Hindu-Kalender. Er wird unterschiedlich begangen: So feiert man ihn in Westbengalen im indischen Osten als Poila Baisakh oder Naba Barsha, im übrigen Indien wie in Punjab und im Nordwesten als Baisakh – Beginn der Erntezeit und Erntedank. In Tamil Nadu (im indischen Süden) heißt das Fest Puthandu, im nordöstlichen Bundesstaat Assam Bohag Bihu und in Kerala im äußersten Süden Vishu.

Poila Baisakh, bei den Indern besser bekannt als Naba Barsha (Neujahr), feiern die Bengalen am ersten Tag des Monats Baisakh, dem ersten der zwölf Monate des bengalischen Kalenders. Naba Barsha 1419 beginnt für die Bengalen in aller Welt am 14. April 2012, wobei sie sich mit ersten Feierlichkeiten bereits Tage vorher einstimmen, wenn sie das Jahr mit neuen Gewändern, üppigen Speisen und zahlreichen Besuchen einläuten.

Traditionell zeichnen bengalische Frauen am Tagesanfang auf Fußböden und in Hauseingänge Alpanas – kunstvolle Muster und Motive. In die Mitte jedes Alpana wird ein Kalash oder Ghot genanntes prächtig bemaltes Gefäß gestellt, ein Sinnbild für Wohlstand. Bei reicher Blüte im Frühjahr schmücken häufig Blumen und Girlanden die Häuser.

Dann sind auch die Andachtsräume (Puja Ghar) von Farben und Düften erfüllt. In vielen Häusern, Läden und Betrieben beginnt Naba Barsha mit frühmorgendlichen Prozessionen, den Prabhat Pheris. An diesem Tag gedenkt man Lakshmis, der Göttin des Glücks, der Schönheit und des Reichtums, und Ganeshas, des „Herrn der Scharen“ – er gilt als Glückstag für Handel und Wandel. Mit dem zeremoniellen Halkhata beginnen die Händler das neue Jahr: Alle Läden und Geschäfte zieren Blumen, vor den Eingängen hängen Zitronen- und Paprika-Girlanden, sie schützen vor dem bösen Blick. Für die Geschäftsleute heißt dieser Tag auch Rechnungsabschluss – nun legen sie neue Geschäftsbücher an.

Mit Freunden und Familie stattet man den Geschäften in der Nachbarschaft einen Besuch ab und wünscht seinen Lieblingsläden Glück. Und der Nettigkeiten ist erst genug, wenn man gemeinsam Süßigkeiten und andere Leckerbissen schmaust. Natürlich hat dieser „Ladenbummel“ für die Kunden noch eine andere Bedeutung: Für die meisten ist eine neue Garderobe an diesem Tag ein Muss. Für die Frauen soll es ein neuer Sari, ein Salwar-Kurta-Set oder ein anderes Stück traditioneller Kleidung sein, und auch Männer und Kinder putzen sich bei diesen Besuchen neu heraus.

Auch in Kolkata gibt es einen Schlussverkauf in den Läden

Einige Tage vor Naba Barsha beginnen auf den meisten Märkten die Sonderverkäufe (Chaitra): Es gibt enorme Preisnachlässe, die Lager werden ausverkauft. Alles ist reduziert, von Kleidung über Schuhe bis zu Elektronik- und Küchengeräten. Typisch für das Fest sind die vielen kulturellen Ereignisse, bunte Tupfer im Leben der Stadt. Überall hört man die beliebten Tagore-Lieder (Rabindra Sangeet), etwa Hey Nuton Dekha Di Aar Par oder Ki Gabo Ami Ki Shonabo.

Überhaupt prägen Musik und Festessen diesen Tag. Denn die Bengalen essen gern und sind stolz auf ihre Küche. Ein entspanntes Mahl mit mehreren Gängen, das langer Vorbereitungen und kulinarischen Einfallsreichtums bedarf, ist seit jeher wesentlicher Bestandteil bengalischer Kultur. In den letzten Jahren aber macht sich im Speisenplan zunehmend internationaler Einfluss geltend: Zutaten aus der „neuen Welt“ wie Brokkoli, Paprika oder Auberginen halten Einzug in die bengalische Küche und verbinden sich mit heimischen Ingredienzien zu neuen Gerichten, deren Zubereitung immer noch den über Generationen weitergegebenen Rezepten folgt.

Heute sind die Bengalen kulinarische Neuerer, für Fremdes aufgeschlossen und durchaus experimentierfreudig – anders als das Klischee des Fischessers und der Naschkatze es will. Unverändert geblieben aber ist das traditionelle Bangali Khabar – der Grund, warum es an Neujahr vor allem um das Essen geht. Seit den Tagen des bengalischen Nationaldichters Rabindranath Tagore ist Poila Baisakh ein Anlass, sich am Köstlichsten gütlich zu tun, was in der Küche des Literaturnobelpreisträgers am Familiensitz Thakur Bari in Jorasanko gezaubert wurde.

So bieten Restaurants und bekannte Hotelketten in Kolkata eine Kostprobe der traditionellen Bangla Ranna in Form einer nach bengalischem Brauch angerichteten reichhaltigen Platte. Wohlgeschmack und Wohlklang: Posto Narkel Bata Die Bora (ein Ködel aus Mohn und Kokosnuss- Pulver), Kosha Murgi (Hühnchen), Beckti Kopir Daab Malai (Fisch mit Blumenkohl, in grüner Kokosnuss gekocht) und Chingrir Bati Chorchori (gedämpfte Krabben) oder das typische Jhuri Aloo Bhaja (dünne Bratkartoffeln), Begun Basanti (Auberginen mit Senf-Mohn-Sauce), Pabda Sorshey (Fisch mit Senf), Ilish Paturi (im Bananenblatt gedämpfter Fisch mit vielen Gewürzen), Tel Koi (Fisch in Öl) und Chitol Maacher Muitha (Fisch-Curry in kleinen Stücken).

Vieles wird mit gekochtem Reis serviert, etwa Ghee Bhaat (Butter-Reis), Luchi (ein kleines rundes Brot), Pulao oder Biriyani (Reis mit Fleisch). Mishti Doi, Aam Sandesh, Notun Gurer- Eis, Raj Bhog, Roso Malai oder Kulfi sind Desserts. Die traditionellen Süßspeisen (Mishti Paan) beschließen ein Menü – es senkt sich der Vorhang einer gelungenen gastronomischen Vorstellung.

Aus der vegetarischen Küche passt so manches gut zu Hauptgerichten wie Luchi oder Pulao mit Koraisutir Dhokar Dalna, Sona Moong Er Dal, Borishali Aloo Dum, Echorer Gonto, Postor Bora und so weiter. Das Beste: Hier finden die beiden bengalischen Nationen zusammen – Westbengalen in Indien und Bangladesh. Preislich sind diese Gerichte in den Fünfsternehotels zwischen 200 und 800 Rupien (3 und 12 Euro) angesiedelt, eine komplette Mahlzeit (Thali, „Platte“) zwischen 1200 und 2000 Rupien (18 und 30 Euro). Auch in den Restaurants liegen die Preise ungefähr zwischen 200 Rupien für ein Gericht und 1000 Rupien (15 Euro) für eine Thali.

Als Tag der Vergnügungen und Festlichkeiten verheißt Naba Barsha ein gutes neues Jahr. Bengalen in der ganzen Welt feiern Neujahr – nicht nur auf traditionelle Weise, sondern mit derselben Begeisterung auch am Beginn des neuen Jahres nach dem gregorianischen Kalender, dem 1. Januar. Dass die Inder beides zusammenbringen, macht vielleicht ihre Einzigartigkeit aus – traditionell und gleichzeitig global zu denken.

Aditi Guha
veröffentlicht am 13. April 2012 in der Nürtinger Zeitung.
Übersetzt von Klaus Sticker.