Leipzig, 14.10.2011: Der „Sohn“ sagt nun tschüss

„Wie kalt ist es heute?“, fragt Raghu mich jetzt öfter. Neun Grad, sieben Grad – da schüttelt er sich, so viel Kälte hat er noch nie erlebt. Zum Lichtfest am Sonntagabend steht er mit auf dem Augustusplatz, kalter Wind pfeift darüber hinweg und bläst immer wieder die Kerzen aus. Die Leipziger haben sich in Anorak und Mütze eingemummelt. Raghu hat auch eine Jacke an, aber die ist eher für indische Kälte ausgelegt. Also verziehen wir uns bald ins Gewandhaus, das an diesem Abend für Journalisten geöffnet ist.
Ich denke mir nichts dabei und frage einen netten älteren Herrn vom Besucherdienst, welche Erinnerungen er an jenen schicksalsschweren 9. Oktober 1989 hat. Unverhofft wird der Mann von heftigen Emotionen gepackt, Tränen steigen ihm in die Augen, er kann nicht sprechen, muss sich abwenden. Eine Szene, die meinem indischen Gast mehr über den 9. Oktober 1989 in Leipzig sagt, als es die vielleicht 20 000 Menschen mit ihren Kerzen vermögen.
In der Redaktion wundern wir uns, warum wir Raghu so selten zu Gesicht bekommen. Er liebt es, lange Spaziergänge durch Leipzig zu machen und alles zu Fuß zu erkunden. „In Bangalore kann man nicht viel herumlaufen, da ist zu viel Verkehr“, erklärt er. Leipzig dagegen sei schön ruhig, so wenig Leute seien unterwegs, die Luft sei sauber – mein Kollege empfindet das als reinste Gesundheitskur. Wenn er von seinen Fußmärschen ins Hotel zurückkehrt, hat er viele neue Dinge gesehen, zu denen er sich dann im Internet Informationen sucht.
In seiner letzten Woche in Leipzig hat der Gastjournalist noch mal einen dicht gefüllten Terminkalender. Unter anderen trifft er Oberbürgermeister Burkhard Jung und Zoochef Jörg Junhold zum Interview für seine Heimatzeitung. Beide sind so fit in der englischen Sprache, dass die Interviews ohne Übersetzer geführt werden können. Beim Stadtoberhaupt bringt der Journalist aber an, was ihn an Leipzig stört: dass viele Institutionen keine englischen Informationen oder Webseiten haben und selbst die Webseite der Stadt Leipzig nicht immer eine detaillierte Englisch-Version enthält.
Tschüss, danke und bitte kann mein Gast mittlerweile auf Deutsch sagen. Das Wort „bitte“ hatte ihn zunächst verwirrt: Es höre sich an wie das Wort „beta“ in der Sprache Hindi, erzählt er. Beta bedeutet Sohn, und er wunderte sich anfangs, warum so viele Leute „Sohn“ zu ihm sagen.
Am Wochenende hatte ich Raghunandan mit meiner Familie in ein indisches Restaurant in der Innenstadt eingeladen. Während uns die Schärfe der Speisen bereits den Schweiß auf die Stirn trieb, bat Raghu den Kellner um zusätzliche Gewürze. „Typisch indisch schmeckt hier gar nichts“, bedauert der 33-Jährige, „das ist alles eingedeutscht.“ Wenn er in Leipzig allein essen geht, bestellt er meist gekochte Kartoffeln. Denn als Vegetarier macht er sich Sorgen, dass doch etwas Fleischliches auf seinem Teller landen könnte. Außerdem hat er sich angewöhnt, Brot zu essen. „Das machen wir in Indien nur, wenn wir krank sind. Dann rät uns der Arzt, Weißbrot zu essen“, erklärt er mir. Allerdings – die Preise im Supermarkt findet er ausgesprochen hoch. Für eine Packung Schnittbrot mit sechs bis sieben Scheiben zahle er hier rund 1,50 Euro, in Indien gerade mal 15 Cent.
Eigentlich wollten wir auch nach Dresden fahren. In Lohmen bei Dresden 1865 ist Gustav Hermann Krumbiegel geboren, der später ein sehr berühmter Gartenarchitekt in Indien wurde. In Bangalore hat Krumbiegel den Botanischen Garten Lal Bagh geleitet, „den kannst du besuchen, wenn du im April nach Bangalore kommst“. Zu unserer Überraschung weiß in Lohmen aber niemand etwas über den Sohn des Ortes, und so lassen wir die Reise sausen.
Raghunandan freut sich auf daheim, auf seinen sechsjährigen Sohn und die acht Monate alte Tochter. Die eine oder andere Geschichte über Leipzig, mit der er noch nicht fertig geworden ist, will er von Bangalore aus an die LVZ schicken.
veröffentlicht am 14. Oktober 2011 in der Leipziger Volkszeitung.