Leipzig, 5.10.2011: „Ich kenne Sie aus der Zeitung“

Von Touristen oder Neu-Leipzigern hört man oft, die Menschen hier seien weltoffen und aufgeschlossen. Seit ich mit Raghunandan unterwegs bin, verstehe ich besser, wie das gemeint ist. Überall, wo ich mit dem Inder aufkreuze, wird er herzlich begrüßt. Alle Türen öffnen sich, die Leute wenden sich ihm freudig zu wie einem guten Bekannten. „Ich kenne Sie aus der Zeitung, habe alle Artikel von Ihnen gelesen“, das bekommt er stets und ständig zu hören. Und wenn ich ihn mal nicht mitbringe, fragen die Leute nach ihm.
„Zwei Wochen reichen gar nicht, damit ich alles von Leipzig sehen kann, was mich noch interessiert“, bedauert er. Also heißt es, zumindest die Kernthemen im Auge zu behalten. Wir fahren zum Porsche-Werk, zu BMW und dann natürlich auch zur Alten und Neuen Messe. Allein schon die Größe dieser beiden Areale verschafft dem Journalisten ein Gefühl dafür, was die Messe für Leipzig bedeutet. Im direkten Vergleich versteht er, warum das alte Gelände nach der Wende ausgedient hatte und warum ein neues, modernes her musste – damit Leipzig als Messeplatz nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.
Um die Neue Messe fahren wir zuerst mit dem Auto herum. Raghunandan hat nicht erwartet, dass alles so riesig ist: Glashalle, Ausstellungshallen, Parkflächen. An diesem Tag findet die Modell & Hobby statt, überall wuselt es von Menschen. Gleich hinterm Eingang zur Glashalle bleibt der 33-Jährige am Messemännchen stehen. Die Figur mit ihrem Globus-Kopf muss nicht erklärt werden, es ist ein Weltreisender wie der Inder selbst. Freudig greift Raghunandan nach dem Koffer des Messemännchens, zumindest fürs Foto.
Den Besuch am Völkerschlachtdenkmal hatten wir schon mal verschoben; ich möchte den 33-Jährigen aber auf keinen Fall nach Hause lassen, ohne dass er Leipzigs berühmtestes Wahrzeichen gesehen hätte. „Das ist ja riesig“, staunt mein Gast, als wir davor stehen. Anhand von Internet-Fotos hatte er es sich wesentlich kleiner vorgestellt. „Und so viele Touristen hier“, wundert er sich über die Völkerwanderung am See der Tränen. Wir steigen die 500 Stufen zu Fuß hinauf, bei 30 Grad Sommerhitze ein schweißtreibende Sache. Oben halten wir Ausschau nach Rathausturm, nach der Kuppel der LVZ und des Bundesverwaltungsgerichts. Raghunandan sagt, er hätte nicht erwartet, dass Leipzig so eine grüne Stadt ist.
Zum ersten Mal erlebe ich ihn in dieser Woche geradezu elektrisiert, nämlich als Leipzigs berühmtes Opossum Heidi eingeschläfert wurde. Heidi war für ihn ein großes Thema, gleich am ersten Tag hatte er gefragt, ob er sie sehen kann. „Oh my God“ lautet nun seine Reaktion auf die Todesnachricht. Sofort macht er sich an die Arbeit, um vor Redaktionsschluss einen Bericht an seine Zeitung Deccan Herald zu senden.
Nicht so richtig ran will er dagegen an den Opernball. Schließlich willigt er aber doch ein, in einen – geliehenen – Smoking zu steigen, und kauft sich sogar ein paar schwarze Schuhe dazu. Als wir gemeinsam über den Roten Teppich laufen, sieht der 33-Jährige super elegant aus. Nur die Fliege hat er nicht zusammengekriegt, und auch ich tue mich damit schwer. Er hat sie in der Jackentasche, bis jemand helfen kann – und das ist kein Geringerer als Top Stylist Boris Entrup, der gerade des Weges kommt. Schade, dass in diesem Moment kein Fotograf dabei ist. Raghunandan ist zwar der vermutlich erste Gast, der den Ball wieder verlässt (gegen 22 Uhr), aber er ist länger geblieben, als er zuerst wollte. Ballett und Gewandhausorchester in einem außergewöhnlich festlich dekorierten Saal zu erleben, das hat ihm wohl doch gefallen. Und auch, dass er mal mitten auf der Opernbühne stehen, zur Bühnentechnik und hinauf in die Scheinwerfer-Brücken schauen konnte. Denn ein Opernhaus, das gibt es in Bangalore nicht.
veröffentlicht am 5. Oktober 2011 in der Leipziger Volkszeitung.