Kolkata

Kolkata, 9.2.2012: Die mit dem Müll leben

 © Wühlen im Müll bringt für viele Familien in Kolkata ein wichtiges Zubrot. © Foto: Jürgen GerrmannManches in Indien kann man wahrlich nicht mit deutschen Maßstäben messen – auch und vor allem den Umgang mit dem Müll.

Würde es in Nürtingen aussehen wie auf den Straßen von Calcutta, dann bräche wohl ein Volksaufstand los. Wobei die bengalische Metropole keine Ausnahme ist. Sondern allenfalls Musterbeispiel für die Regel: Was man für überflüssig hält, wird überall in Indien achtlos und ohne großes Nachdenken einfach weggeschmissen. Sei es auf den Gehweg oder die Straße. Das ist vielleicht das Verstörendste, was man als jemand aus dem Schwabenland, wo die Kehrwoche zentraler Bestandteil der nationalen Identität ist, erleben kann.

In Indien freilich stört sich keiner dran. Egal, ob die in Lumpen in den Slums oder die Business-Men in den Maßanzügen auf der Camac Street – niemand findet auch nur das Geringste dabei, die Verpackung des Sandwichs, das man gerade auf dem Weg ins Büro gegessen hat, den Papp- oder Plastikbecher, aus dem man am Straßenrand einen Tee oder Kaffee geschlürft hat, oder auch die Plastiktüten, in denen die Ärmsten der Armen nach noch etwas Verwert- oder Essbarem fahnden, einfach fallen zu lassen oder wegzuschmeißen.

Selbst wenn man (wie ich) mit einem Reisebus unterwegs in den Nationalpark Sundarbans ist und bei einem Zwischenstopp an einer Tankstelle Tee serviert wird, gibt der junge Mann, der die Gruppe begleitet, auf die Frage, wohin man denn mit dem leeren Plastik-Tässle solle, zur Auskunft: „Wirf es da in die Ecke.“

Wobei das mit der Ecke schon ein Fortschritt ist. Normal macht man sich nicht mal die Mühe, die paar Schritte bis zur Ecke zu gehen, sondern öffnet einfach die Hand: Problem erledigt. Ein Mülleimer an einer Tankstelle, einer Straßenecke oder in einer Grünanlage? Purer Unfug!

Und so legt sich über die ganze Stadt eine Schicht aus Müll unterschiedlichen Alters und verschiedener Konsistenz und rottet vor sich hin. Ab und zu sieht man mal jemand mit einem Reisigbesen die paar Quadratmeter vor dem eigenen Gemüsestand oder Eiswagen fegen. Aber der oder die müssen sich vorkommen wie Sisyphus: Spätestens in einer halben Stunde sieht alles wieder aus wie zuvor.

Fünf Minuten zu Fuß vom Goethe-Institut entfernt liegt, von drei etwa vier Meter hohen Mauern umgeben, ein kleiner Platz. Dort parken immer mal wieder Lastwagen rückwärts ein und kippen ihre Fracht auf den Boden: offensichtlich Hausmüll aus dem Viertel ringsum, der in großen Plastiksäcken angeliefert wird.

Müllberge als neue Attraktion von Calcutta?

Dabei bleibt es nicht: Sofort stürzen sich etwa acht bis zehn Menschen drauf, reißen die Säcke auf und wenden sich dem Abfallhaufen zu, der vor ihnen auf dem Boden liegt. Als ich ihnen eine Weile zuschaue, denke ich mir: „Das muss die indische Variante des Recycling sein.“ Denn Mülltrennung kennt man hier naturgemäß nicht, den einzigen Unterschied macht es, ob man etwas auf die Straße wirft oder daheim erst mal in einen Sack packt.

Die Menschen, die dort im Müll wühlen, sind verdreckt. Mich würde das anekeln, und ich habe große Skrupel, das überhaupt zu fotografieren. Zu unwürdig kommt mir das vor. Die Männer und Frauen in der Mauernische am Rande des Terrains des Calcutta Cricket Clubs scheint das indes überhaupt nicht zu stören. Das sei für indische Verhältnisse nicht mal der übelste Job, sagt mir Basav Bhattacharya, mit dem ich ins kleine Dörfchen Karanjali unterwegs war, etwas später.

Man müsse zwar von früh bis spät im Dreck herumsteigen, aber vor allem das Plastik, das man aus all dem Schmutz berge, sei heiß begehrt. 1500 Rupien könne man da im Monat schon machen. Nach heutigem Kurs etwa 24 Euro. In deutschen Augen erscheint dies erschreckend wenig. In Calcutta aber kriegt man einen Zentner Reis dafür. Und in Karanjali sogar fast 70 Kilo.

Es gibt übrigens noch die andere Dimension des Mülls. Beim Betriebsfest der Times of India an den Fischteichen von Salt Lake City zeichnen sich am Horizont zwei Hügel ab. Ich frage Bob Roy, den Redaktionsleiter hier, worum es sich denn dabei handle. „Alles Müll“, antwortet er. Der hat sich im Lauf der Jahre angehäuft. Jetzt werden die Deponien begrünt.“ Calcutta sei ja sonst topfeben, es gebe keine Hügel.

Es klingt fast ein bisschen stolz. Und man meint, einen Tick Vorfreude raushören zu können – Müllberge als Attraktion gewissermaßen, als neue Freizeiteinrichtung. Es gibt eben immer zwei Seiten einer Medaille.

Jürgen Gerrmann
veröffentlicht am 9.Februar 2012 in der Nürtinger Zeitung