Kolkata

Kolkata, 20.2.2012: Wie aus Stroh und Schlamm Kunst wird

 © Töpfer bei der Arbeit © Foto: Jürgen GerrmannSie sind die „Bildhauer des kleinen Mannes“: Schon seit Jahrhunderten fertigen die Töpfer von Kolkata in der sogar nach ihnen benannten Straße in South Calcutta in erster Linie Göttinnen und Götter. Die Technik wird dabei von Generation zu Generation weitergegeben – verwendet werden Holz, Stroh und Schlamm.

In der „Potua Para“ (Töpferstraße) drängt sich Werkstatt an Werkstatt. Wie an einer Perlenschnur reiht sich in der Nähe der Wohnung von Mamata Banerjee, der Ministerpräsidentin von West-Bengalen, ein Familienbetrieb an den anderen.

Nikhil Pal zum Beispiel ist der Sohn von Shrish Chandra Pal, der für seine Kunst sogar mit dem Anerkennungspreis des indischen Präsidenten ausgezeichnet wurde. Obwohl dies schon eine geraume Zeit zurückliegt, wird das Foto davon natürlich stolz über dem Eingang präsentiert. Auch Shrish Chandra hatte sein Handwerk von seinem Vater gelernt, und Nikhil gibt dessen Geheimnisse nun an seinen Sohn weiter.

Das Prinzip hat sich dabei seit Jahrhunderten nicht verändert. Aus der Zeit des alten Indien fanden die Archäologen Terracotta-Figuren, später kamen wohl Götter aus Stein und Holz hinzu. Die Lehm-Kunstwerke seien wohl die Variante des kleinen Mannes gewesen, vermutet Mandira Mitra, die Mitarbeiterin des Journalisten und PR-Beraters Basav Bhattacharya, die mich mit ihrem Chef durch den Stadtteil begleitet, in dem der seine Jugend verbrachte und sich auskennt wie in seiner Hosentasche.

Und der erklärt mir auch das Prinzip, gemäß dem die mal kleinen, mal großen Statuen entstehen, die in vielen (wenn nicht gar den meisten) indischen Wohnungen zu finden sind: Aller Anfang ist ein simples Holzgestell in unterschiedlicher Größe. Darauf wird dann Stroh drapiert, so dass die Grundform schon zu erkennen ist. Basav kann mir schon beim ersten Blick auf die Strohklumpen sagen, welcher Gott oder welche Göttin mal daraus werden wird.

Danach kommt der Schlamm zum Einsatz. Mit viel Hingabe wird er aufgebracht, mit viel Liebe auch die Details gestaltet. Für den Kopf und die Lotosblüten verwendet man Formen, beim Rest geht das nicht. Man kann nur staunen, wie diese Menschen zum Beispiel Finger und Zehen aus Schlamm gestalten. Das geht nicht mit Hilfsmitteln, denn diese Gliedmaßen sind bei den Figuren ganz individuell gestaltet und oft auch gekrümmt und gebogen.

Nun ist auf jeden Fall schon ziemlich deutlich zu sehen, wie das Endprodukt aussehen wird. Doch auf Nikhil und seine (zur Hauptsaison vor der Durga Puja, Kolkatas großem Volksfest im Herbst) 25 Mitarbeiter wartet noch gewissermaßen der Feinschliff: Erst muss der Schlamm trocknen, dann wird er (ebenfalls mit uralten Motiven) bemalt. – Und wenn ich dann die farbenprächtigen Figuren betrachte, dann kann ich kaum glauben, dass sich darunter nichts als Stroh und Schlamm befindet. Angesichts der glatten Oberfläche hätte ich das nie vermutet.

„Da ist kein bisschen Metall drin“, schwärmt mit Basav vor: „Wenn bei großen Figuren Nägel verwendet werden müssen, um die Konstrukltion stabil zu halten, dann sind die aus Bambus. Der hält nämlich den Schlamm. Von einem Eisennagel würde er abrutschen.“

Diese Göttinen und Götter, für die die Inder zwischen 500 und 1000 Rupien (8 und 16 Euro) ausgeben, sind übrigens „Kunstwerke auf Zeit“. Nach dem Jahrestag der entsprechenden Gottheit bringt man die Naturprodukte zum Hugli (beziehungsweise Ganges) oder einem anderen Fluss.

Im Wasser lösen sie sich auf. Die Götter gehen (nach dem Glauben der Hindus) damit wieder in ihre Heimat zurück. Die Holzgestelle bleiben übrig. Und werden wiederverwendet. Für die Götter des nächsten Jahres. Denn für Basav und seine Landsleute symbolisiert dieses Rituals auch den Kreislauf des Lebens. Mit ihm verehren sie Mutter Natur.

Jürgen Gerrmann
veröffentlicht am 20.Februar 2012 in der Nürtinger Zeitung