Kolkata

Kolkata, 14.2.2012: Bei den „ersten Menschen“ Indiens

 © Jürgen Gerrmann mit Adivasi aus den Sundarbans © Foto: aio"Die Inder“ – dieser Ausdruck taucht auch in dieser Artikelreihe immer wieder auf. Aber eigentlich stimmt das nicht ganz. Die Republik Indien ist vielmehr ein Vielvölkerstaat. Manche davon sind den meisten in Europa völlig unbekannt. Auch wenn es zum Beispiel mehr Adivasi gibt als Deutsche.

Wie kurz die Formulierung „die Inder“ greift, zeigt auch die Tatsache, dass auf dem Gebiet der Republik über 100 Sprachen gesprochen werden (und die Dialekte kann wohl keiner mehr zählen). Hier in Westbengalen und dessen Hauptstadt Calcutta ist zum Beispiel Bengali die Amtssprache. In der werden auch viele Zeitungen gedruckt, und auch die lokalen Fernseh- und Radiosender benutzen sie.

Am verbreitetsten in Indien ist indes Hindi, das den restlichen Norden des riesigen Landes dominiert, und auch dravidische Sprachen (wie etwa Tamilisch) spielen im Süden eine große Rolle. Die indische Verfassung erkennt insgesamt 21 verschiedene Sprachen an – vom Assami bis zum Urdu.

Und dort sind auch 645 „gelistete Stämme“ aufgeführt – allein 41 davon hier in West-Bengalen. Von Asur und Chakma, Gond und Karmali, Lepcha und Mahli, Munda, Subba und all den anderen dürfte man in Deutschland und Europa noch nicht allzu viel gehört haben (außer unter den Tübinger Volkskundlern vielleicht). Das wird sich auch nicht ändern, und ist im Grunde auch nicht so wichtig.

Wichtiger wäre es, wenn dort mal ins Bewusstsein dränge, dass es die „Adivasi“ gibt, wie sich diese Stämme als Sammelbegriff selbst bezeichnen. Aus dem Hindi übersetzt heißt das „erste Menschen“, die indische Verfassung meidet dieses Wort peinlich. Es soll nicht der Eindruck entstehen, als habe schon jemand vor den Kasten-Hindus hier gewohnt. Obwohl das wohl so war. Und sich die Adivasi als Indiens Urbevölkerung sehen.

Sieben Prozent der indischen Staatsbürger sollen Adivasi sein. Auf die berühmten 1,2 Milliarden hochgerechnet, wären das also 84 Millionen – mehr als es Deutsche gibt!

Auch im Nationalpark Sundarbans leben Adivasi, die vor Jahrhunderten aus ihrer eigentlichen Heimat im Distrikt Ranchi im vor zehn Jahren neu gegründeten Bundesstaat Jharkand ins Ganges-Delta zogen, weil sie vor dem Hunger flüchteten. Ihre uralte Kultur haben sie dort am Randes des Dschungels bewahrt und pflegen sie auch – nicht nur im Dienste des Tourismus. Aber auch.

Mit deutscher Entwicklungshilfe die Ureinwohner verjagt

Wer etwa im Sundarban Tiger-Camp ihre Tänze bewundert, der merkt gleich, dass sie noch einer Naturreligion anhängen. So ist etwa der Trommler mit einem mächtigen Gehörn ausgestattet. Ihre Bräuche halten sie heute noch hoch, und die Adivasi sind auch stolz darauf, dass die Frauen seit eh und je bei ihnen mehr Rechte haben – und dass überhaupt die Familie das Wichtigste ist, das es für sie gibt.

Die Rechte, die die Verfassung den „gelisteten Stämmen“ gibt, existieren für die Adivasi oft nur auf dem Papier, sie gelten (auch wenn das Kastensystem offiziell abgeschafft ist) weitgehend als Ausgestoßene. Auch die deutsche Entwicklungshilfe hat sich da nicht gerade mit Ruhm bekleckert: wegen des von ihr in der Ära Adenauer finanzierten und von Firmen wie AEG, Krupp und Siemens realisierten Baus des Stahlwerks von Rourkela jagte man zum Beispiel 16 000 dieser Menschen einfach aus dem Urwald. Auf Geld, Land und Arbeitsplätze, die man ihnen versprochen hatte, warteten sie vergebens.

Im Vergleich dazu haben es die Adivasi in den Sundarbans noch richtig gut. Sie hausen zwar auch unter ärmlichen Bedingungen, aber ihre Hütten haben Solarenergie. Und sie werden gebraucht. Ihre Folklore kann man ganz gewiss sehen, während das mit Krokodilen, Schlangen und vor allem bengalischen Königstigern so eine Sache ist. Die kommen nämlich nicht auf Bestellung.

Im Gegensatz zu den Adivasi. Während die singen und tanzen, habe ich nicht den Eindruck, dass sie sich ausgebeutet fühlen. Im Gegenteil: Die Touristen zeigen sich in der Regel großzügig. Wenn man es so betrachtet, dann haben die Adivasi an der Grenze zu Bangladesh das große Los gezogen. So gut wie ihnen geht es ihren Stammesschwestern und -brüdern in den Slums der Metropolen nie und nimmer.

Und wohl nicht zuletzt daher machen sie sich in ihren Kostümen fröhlich wieder auf den Heimweg in ihr Dorf. Barfuß. Eineinhalb Stunden lang.

Jürgen Gerrmann
veröffentlicht am 14.Februar 2012 in der Nürtinger Zeitung