Kolkata

Kolkata, 13.2.2012: Kein Bedarf an Supermärkten

 © Gemüsemarkt in Kolkata © Foto: Jürgen GerrmannManchmal kann man gar nicht anders, als sich mit den Indern zu solidarisieren. Zum Beispiel dann, wenn es um freie Bahn für ausländische Supermärkte geht.

Da herrschte doch beim Weltwirtschaftsforum in Davos tatsächlich Verärgerung bei einigen Lenkern der globalen Ökonomie: sie kritisierten, dass Indien sich nicht für ausländische Supermarkt-Ketten öffnen wolle und entsprechende Pläne erst mal gestoppt habe. Dieses Stirnrunzeln kommt mir, der ich nun drei Wochen in Calcutta lebe, mittlerweile als typisch westliche Arroganz vor. Denn Indiens Regierung hat völlig recht: Dieses riesige Land hat keinerlei Bedarf an WalMart oder Carrefour und auch nicht an Aldi oder Lidl.

Im Gegenteil: Ihnen den Weg zu bereiten, könnte höchst fatale folgen haben. Denn damit bräche für Abermillionen ihre Lebensgrundlage weg. Denn die Nahversorgung zählt zu den Dingen, die in Indien wirklich funktionieren (vorausgesetzt natürlich, dass man auch das Geld für die Dinge des täglichen Bedarfs hat).

„Einkaufen gehen“ – das ist in Indien nicht eine hohle Phrase, sondern Tatsachenbeschreibung. Fast alles, was man braucht, gibt es in unmittelbarer Nähe der eigenen Wohnung respektive des Arbeitsplatzes. Mit dem Auto einkaufen fahren zu wohlen, das ist hier mit eine Prise Wahnsinn gewürzt. Denn erstens kommt man im Dauerstau kaum voran und zweitens sind in einer Stadt, in der sich über 23 000 Menschen auf einem Quadratkilometer drängen, naturgemäß Parkplätze absolute Mangelware.

Die Nahversorgung funktioniert dabei völlig anders als bei uns gewohnt: Mindestens 14 Millionen Menschen leben zum Beispiel in Calcutta (wobei ich an diesen Zahlen so meine Zweifel habe, denn ich glaube nicht, dass die Ärmsten der Armen bei der offiziellen Statistik wirklich mitgezählt werden). Wieviel kleine Lädchen (oft nur zwei Quadratmeter groß am Straßenrand) es dort gibt, das können mir nicht mal meine Kolleginnen sagen. Gefühlt müssen es eine Million sei, und wenn ich vermute, dass es mindestens so viel „Tante Emmas“ beziehungsweise „Onkel Ashishs“ gibt wie Stuttgarter, dann bin ich mit meiner Schätzung auf jeden Fall auf der sicheren Seite und habe garantiert nicht übertrieben.

All deren Existenz stünde auf den Spiel, wenn die großen westlichen (oder überhaupt ausländischen) Konzerne hier freie Bahn erhielten. Ihr Überlebenskampf würde noch härter, vielen drohte der Weg vom leidlichen Auskommen direkt in die Slums.

Nicht nur Händler, auch Bauern werden in ihrer Existenz bedroht

Und dabei bliebe es ja nicht: auch die Klein- und Hobbybauern, die etwa direkt an der Hauptstraße vom Flughafen in die Stadt ihre Produkte frisch vom Acker nebenan feilbieten, müssten wohl einen Einbruch beim Absatz erleiden – ebenso wie die Schneider in ihren Mini-Werkstätten, die Süßigkeitne-Händler, die mit ihrem Karren durch die Stra0en fahren, die Nussverkäufer, die noch von Hand ihre Spezialmischungen nach Wunsch herstellen, oder die Zeitgenossen, die mit einer handbetriebenen Kurbel frischen Orangen- oder Zitronensaft pressen.

Und sage niemand, die kleinen Dörfer blieben verschont, weil dorthin ja ohnehin kein Supermarkt gehe! Man staunt nur, dass selbst am Ende der Welt (wie man wähnt) noch eine Menge Läden existieren und die Versorgung garantieren. Wenn nun aber die Fischer ihren Fang aus dem Hugli oder Meer nicht mehr auf den Märkten oder bei Kleinhändlern in Calcutta loswerden, wenn die Kleinbauern ihren Reis nicht mehr in der Stadt verkaufen können, dann rutschen auch sie vollends in Elend und können auch bei ihren Nachbarn nichts mehr kaufen.

Ein Teufelskreis, der mich regelrecht empört, zumal auch in anderen Ländern der Welt (etwa Marokko) dasselbe droht. Ich spüre, wie in mir fast Aggression aufkommt: „Wird hier die zweite Kolonisierung vorbereitet?“, geht mir durch den Kopf. Die erste Unterwerfung Indiens hat ja auch mit einer Handelsgesellschaft begonnen. Der Britischen Ostindien-Kompanie. Mitte des 18. Jahrhunderts. In Calcutta.

Jürgen Gerrmann
veröffentlicht am 13.Februar 2012 in der Nürtinger Zeitung