Kolkata

Kolkata, 1.2.2012: Der Barbier von Kolkata

 © Ramashish Thakur macht keine halben Sachen © Foto: PassantIn Italien hab ich das Gefühl ein paar Mal genossen. Aber nun schon lange nicht mehr. Auch in Nürtingen fand ich niemand, der mich mal richtig gründlich nass rasiert. Da kommt mir mein Aufenthalt in Indien gerade recht. Nicht in einen Salon will ich, wie mir meine Kolleginnen empfehlen. Mich zieht es zu Ramashish Thakur.

Der 29-Jährige hat einen uralten Stuhl ein paar Schritte von unserem Büro entfernt direkt am Straßenrand aufgestellt. Auch die Nackenstütze ist (wie der Rest) aus Holz. Allzu bequem geht es also nicht zu. Aber das habe ich ohnehin nicht erwartet.

In die Mauer, die vermutlich schon die Kolonialzeit erlebt hat und von der der mal schwarz, mal braun, mal rötlich schimmernde Putz mehr und mehr abbröckelt, hat Ramashish fünf Nägel geklopft. Einen etwas weiter unten, in der er den akkurat waagrecht hängenden Spiegel mit Goldrand verankert hat, vier etwa zwei Zentimeter drüber und in der Breite versetzt. Je zwei übereinander. Die hat er mit einer Schnurkonstruktion miteinander verbunden, sodass er seine Cremes auf der oberen Spiegelkante sicher abstellen kann. Auch der Zweig einer Orchidee hat da noch Platz gefunden.

Trotz der Folter am Straßenrand fühle ich mich wohl und erfrischt

Er greift zu einer Tube „Axe“. Etwas westlich darfs dann doch sein. Wie er mir die Rasiercreme ums Kinn streicht, dauert schon allein drei Minuten und ähnelt einer Gesichtsmassage.

Dann kanns und solls losgehen. Ramashish legt eigens für mich eine neue Klinge in sein historisches Gerät. Und macht sich ans Werk. Minutenlang. Bis er auch dem letzten Bartstoppel den Garaus bereitet hat. Den Schaum streift er dabei auf seinem linken Unterarm ab.

Dann hält er mir ein Gerät, mit dem man sonst Blumen besprüht, vors Gesicht und drückt ab. Greift nacheinander in drei Tiegel und streicht mir eine Creme nach der anderen ins Gesicht. Ich glaube nicht, dass ich in meinem ganzen Leben so viel Kosmetik auf einmal abbekommen habe.

Wieder wird gesprüht, dann aber hebt Ramashish von dem improvisierten Tischlein neben sich einen Stein (ich schätze mal, aus Salz) auf und geht mir damit ums Kinn und über die Wangen. Wenn ich ihn recht verstehe, soll das antiseptisch sein. Mit einem Akkuhaarschneider rückt er danach noch den kleinsten Härchen in der Nase zuleibe.

Aber ich bin immer noch nicht fertig. Unvermittelt kriege ich plötzlich Handkantenschläge auf den Scheitel, dann trommelt der Barbier von Kolkata mit der Unterseite seiner Fäuste über den ganzen Kopf. Es folgt eine Gesichtsmassage, bei der er sogar an den Wimpern und den Lidern zupft und die Augäpfel sanft drückt.

Ohne Vorwarnung kriege ich Faustschläge auf die Schultern, werde mit einem Ruck nach vorne in Richtung Mauer gedrückt. Ramashishs Daumen bohren sich links und rechts meiner Wirbelsäule entlang – und dann greift er sich auch noch meine Streichholzärmchen, verdreht erst das rechte, dann das linke, als wolle er sie verknoten, und reißt mir fast die Finger aus den Gelenken. Einen nach dem anderen. Zum Abschluss gibt er mir noch mal kräftig eine aufs Haupt.

Komisch: Der Folter am Straßenrand zum Trotz fühle ich mich wohl und erfrischt. Ramashish hat ganze Arbeit geleistet. 50 Rupien (80 Cent) will er dafür, ich geb ihm 80. Als er dann begreift, dass er einen Journalisten aus Deutschland einseifen und so richtig in die Mangel nehmen konnte (wovon sicher auch so mancher Politiker daheim träumt), ist er ganz begeistert und schickt seinen Sohn los, um Tee zu holen. Selbstverständlich gratis. Und die Nürtinger Zeitung will er unbedingt haben. Sagts – und schreibt die Adresse auf, vor der sein klappriger Holzstuhl steht.

Jürgen Gerrmann
veröffentlicht am 1.Februar 2012 in der Nürtinger Zeitung