Kolkata, 28.1.2012: „Die Reichen spielen lieber Cricket“

Am Samstagmittag um 2 soll Anpfiff im Salt Lake City Stadion sein, hat mir Gopal Ghosh, der Manager von East Bengal Calcutta, zurzeit Zweiter der I-League, gesagt. Es geht gegen Hindustan Aero, den Tabellenletzten.
Ich bin schon vor 12 da. Einige Jungs, die zurzeit bei den College-Meisterschaften in der Leichtathletik um Medaillen kämpfen, lotsen mich sogar in den Innenraum.
Um 13.08 Uhr kommt das Heimteam auf den Platz. Trainer James Morgan, ein alter Haudegen aus England, der früher unter anderem den Nachwuchs von Hull City gecoacht hat, trägt die Hütchen fürs Warmspielen höchstpersönlich auf den Platz und positioniert sie. Etwas, das man sich bei Jupp Heynckes und seinen Kollegen kaum vorstellen könnte.
Für Stimmung sorgt lediglich das Tauziehen
In der Bundesliga würde jetzt schon längst ein Riesen-Ballyhoo im Gange sein, aber East Bengal kann sich fast in Abgeschiedenheit warm machen, für Stimmung sorgt lediglich das Finale im Tauziehen bei den College-Schülern.
Als es dann langsam losgeht, ist es (auf gut Schwäbisch) fatzenleer im größten Stadion von ganz Asien. 120 000 Zuschauer gehen dort rein (allerdings nur, wenn man die Sicherheitsbestimmungen des DFB nicht zugrunde legt), etwa 20 000 hat Gopal Ghosh am Tag zuvor im Gespräch mit mir erwartet, gekommen sind in Wirklichkeit (freundlich gerechnet) vielleicht ein Zehntel davon. Obwohl der Eintritt nur zwischen 40 und 120 Rupien (60 Cent und 1,80 Euro) kostet. Schon heute allerdings redet jeder vom großen Derby gegen Mohan Bagan. Das achtälteste der Welt, wie mir Sagnik Mazumder, ein Mitarbeiter von East Bengal, der heute allerdings Mannschaftsbetreuer von Bangalore ist, weil die keinen mitgebracht haben, stolz erzählt.
Die treuen Fans jubeln allerdings schon jetzt, als die beiden Teams den Platz betreten. East Bengal in gold-roten Hemden und schwarzen Hosen (also quasi den deutschen Farben), Bangalore ganz in Grün. Im Innenraum machen es sich jede Menge Polizisten gemütlich. Viel zu tun haben werden sie heute mit Sicherheit nicht. Bangalore liegt zweieinhalb Flugstunden von Calcutta entfernt. Da kommt kein Fan mit.
Vor dem Anpfiff trödelt Hindustan Aero ewig und löst den Kreis, den man geschlossen hat, um sich mit gesenkten Köpfen gegenseitig Mut zuzusprechen, einfach nicht auf. In der Bundesliga hätte es da schon den größten Ärger mit Sky gegeben, weil sich der Anpfiff durch solche Sperenzchen um mindestens zwei Minuten verzögert, auch hier gibt es wüste Beschimpfungen von den Rängen, aber Schiedsrichter Dipak Singh (wie seine Assistenten aus New Delhi) schaut seelenruhig zu.
Ich sitze im Presseraum. Klimatisiert. Durch meterhohe Glasscheiben von den Fans vor mir getrennt. Eigentlich schade. So kriege ich die Emotionen der Fans nur gefiltert und gedämpft mit.
Aber es gibt auch nicht viel zu jubeln oder anzufeuern. Das Spiel dröppelt so vor sich hin, und ich frage mich, wie wohl ein Spiel des SSV Reutlingen oder eines anderen Oberligisten gegen East Bengal ausgehen würde. Als ich zu meinen Kollegen hinter mir sage, ich hätte nicht so recht erkennen können, welches Team hier um die Meisterschaft kämpft und welches schon so gut wie abgestiegen ist und welches Team nun in 15 Spielen zehnmal so viel Punkte (nämlich 30) als das andere gesammelt hat, geht ein Gelächter durch den Raum. Den Kollegen gefällt das, und plötzlich bin ich der Fußball-Experte aus Deutschland.
Durch das Fachsimpeln vergeht die Pause wie im Fluge, das Grauen auf dem Platz indes nicht so schnell. In der 50. Minute wird es James Morgan zu blöd, er nimmt Khan Thang Paite raus und bringt Sushanth Mathew für ihn. Aber für Stimmung sorgt erst mal nur Bangalore-Stürmer Jagaba Hamza Amaba, der wie vom Blitz gefällt zu Boden geht, danach aber weder aufstehen noch sich auf die Trage legen will. Als er dann endlich über die Seitenlinie hinausbugsiert wird, erlebt der Afrikaner eine wahre Wunderheilung (es soll nicht die letzte an diesem Tag bleiben). Was die East-Bengal-Fans vollends zur Weißglut treibt.
In der 65. Minute werden sie dann endlich erlöst. Beim ersten durchdachten Angriff von East Bengal kommt eine feine Flanke von rechts über Torwart Pramod hinweg, und Saumik Dey köpft problemlos ein: Morgan wechselt kurz darauf seinen sonst besten Mann, den Australier mit dem für dort typischen Namen Tolgay Özbey, aus und den Brasilianer Edmilson, den er bislang hat auf der Bank schmoren lassen, ein. Und der sorgt mit einem feinen Pass dann für die Entscheidung. Der Nigerianer Orji Penn Ikechukwu braucht nur noch einzuschieben.
Die indischen Kicker haben einfach zu wenig Kraft
Morgan redet mit seiner knorrigen britischen Art bei der Pressekonferenz gar nicht lange um den heißen Brei herum: Das Spiel sei mies gewesen, räumt er ein. Das Derby wolle man gewinnen, sagt er: „Aber manchmal sind Erwartung und Ergebnis zwei verschiedene Dinge.“
Während er schallendes Gelächter erntet, trauert Kusak Chakrabarti, ein Veteranunter den Sportjournalisten Calcuttas, den großen Zeiten des indischen Fußballs nach. 1951 sei man Asien-Meister gewesen, 2003 habe East Bengal noch den Asean-Cup gewonnen. Er führt das auf die Ernährung zurück. Die indischen Kicker hätten einfach zu wenig Kraft, klagt er: „Die Straßenkicker aus den Slums haben nichts zu essen. Und die Reichen spielen lieber Cricket.“
Auch Morgan sagt dem Gast aus dem Schwabenland, seine Jungs hätten einfach zu wenig Power und Kondition, um gegen eine deutsche Profi-Mannschaft zu bestehen. Ab der vierten Liga sehe er vielleicht eine Chance. Ob der, der demnächst zu ihm stößt, für mehr Power sorgen kann? Fabio Cannavaro, Weltmeister aus Italien, hat für nächsten Monat seinen Wechsel von Al Ahli aus Dubai nach Calcutta angekündigt. Na denn: Schaun mr mal!
veröffentlicht am 28. Januar 2012 in der Nürtinger Zeitung