Hyderabad

Hyderabad, 25.3.2012: Zu Gast in einer fremden Welt

 © © Foto: Bernhard LudewigMOPO-am-Sonntag-Reporter Philipp Dudek hat vier Wochen bei einer indischen Zeitung gearbeitet. Die Abschlussreportage aus Hyderabad.

Vier Wochen Indien. Vier Wochen in der Mega-City. Natürlich müsste ich von den Verkehrsproblemen Hyderabads erzählen: 2,1 Millionen Autorikschas, Motorroller, Busse und Autos. Mehr als 400 Verkehrstote jedes Jahr. Ich könnte auch von dem riesigen brennenden Müllberg vor den Toren der Stadt berichten. 50 Meter hoch und 10 Millionen Tonnen schwer. Ich kann von bitterer Armut und steinreichen Wirtschafts-Tycoonen erzählen oder über Heiratsvermittler und eine milliardenschwere IT-Industrie berichten. Wenn Sie aber wirklich etwas über die Menschen erfahren wollen, die in dieser wunderlichen Großstadt inmitten einer Felslandschaft leben, muss ich Ihnen Geschichten von Zigaretten, Chai und ausgeleierten Hemden erzählen.

Im Land der Träume: In Indien wird geackert. Eine Sechs-Tage-Woche mit rund zehn bis zwölf Stunden täglich ist ganz normal, fünf Tage Urlaub am Stück sind Luxus. Irgendwoher müssen die sechs Prozent Wirtschaftswachstum ja kommen. Das Ergebnis: In Indien wird auch viel geschlafen. Tief und fest, bei jeder Gelegenheit, die dem Arbeitstag abgerungen werden kann. Den Kopf an den Rücken des Vordermanns gelehnt, schlafen erwachsene Männer auf Motorrad-Rücksitzen. Bei voller Fahrt. Auf einer Bank sitzend, ratzen Geschäftsmänner vor Bürogebäuden. Das Handy klingelt in voller Lautstärke in der Brusttasche, laut hupend rast ein Bus vorbei: Egal, die Herren im Jackett schlafen.

Die Fernsprecher: Apropos Handy. Das Mobiltelefon ist in Hyderabad das wichtigste Arbeits- und Alltagsgerät. Einfach alles wird per SMS erledigt: Kinokarten und Bustickets bestellen, das Bankkonto abfragen, Konferenzen einberufen, Stromrechnungen bezahlen. Kein Wunder bei diesen Preisen: Umgerechnet 1,5 Cent kostet eine SMS, eine Gesprächsminute sogar noch weniger. Deshalb wird in Hyderabad viel mit dem Handy telefoniert. Selbst dann, wenn der Gesprächspartner nur im Büro nebenan sitzt.

Chai: Egal zu welcher Tageszeit, Hyderabads Straßenverkäufer frittieren, kochen und rösten. Vor allem Samosas (frittierte Teigtaschen mit gewürztem Gemüse oder Fleisch) gibt es an jeder Ecke. Die wichtigsten Snacks in Hyderabad sind allerdings Zigaretten und Chai. Chai-Trinken in Hyderabads Teeläden ist ein großartiges Erlebnis. Besonders wenn man kurz zuvor drei Mal mit der Faust in die flache Hand geschlagen, dabei laut „Strong! Strong! Strong!“ gerufen und damit dem Kellner signalisiert hat, dass man in die Milch auch Tee haben möchte. Obwohl in fast allen Chai-Läden große „Rauchen verboten“-Schilder hängen, stecken sich die meisten Gäste eine Fluppe an, noch bevor sie sich hinsetzen. Da ist es ganz praktisch, dass vor wirklich jedem Chai-Laden ein kleiner Kippen-Kiosk steht. Hier gibt es Zigaretten. In Schachteln oder als Einzelstücke. An der Außenwand des Kippen-Kiosks ist normalerweise ein kokelndes Stückchen Seil aufgehängt – als Dauerfeuerzeug.

Die Dauer-Talkshow: Genauso essenziell wie der Gewürztee sind Gespräche. In Hyderabad wird viel geredet. Unterhalten sich zwei, ist es oft nur eine Frage von wenigen Sekunden, bis sich ein Grüppchen Neugieriger dazugesellt. Im Restaurant mag es befremdlich sein, plötzlich von lauschenden Kellnern umgeben zu sein, die sich am liebsten am Gespräch beteiligen würden. Im Journalisten-Alltag ist das Redebedürfnis der Inder allerdings von großem Vorteil. Vor dem Bundesgericht in Hyderabad versammeln sich jeden Nachmittag Journalisten verschiedener Zeitungen und tauschen sich lautstark aus. Es geht um korrupte Polizisten, schlagfertige Richter und lahme Anwälte. Es wird gelacht, geraucht und Chai getrunken – und dabei wichtige Infos für die nächsten Artikel gesammelt. Dass in dem Kreis auch Militär- und Polizeiangehörige stehen und zuhören, stört die Journalisten nicht weiter. Schließlich haben die Beamten das gleiche ausgeprägte Mitteilungsbedürfnis wie die Kellner im Restaurant.

Das indische Hemd: Während viele Frauen in Hyderabad prächtige bunte Saris oder Salwar Kamiz tragen, besteht das Standard-Outfit vieler indischer Männer aus einer Stoffhose, Sandalen und einem ausgeleierten Business-Hemd mit Brusttasche. Was Hamburger Männer in einer Umhängetasche mit sich schleppen, stopfen indische Männer in diese Hemdtasche. Schlüssel, Handy, Notizblock, Kippen, Stift. Manchmal hängt das Hemd deshalb etwas schief am Mann und fast immer hat sich unterhalb der Tasche ein kleiner Tintenfleck gebildet. Den Vorteil der Brusttasche habe ich allerdings schnell entdeckt: Bei 40 Grad kleben Rucksack oder Umhängetasche wahnsinnig schnell am Körper. Ein neuer MOPO-Kollege: Seit Freitag ist Suryanarayana Natraj (46) aus Hyderabad bei der MOPO zu Gast. Der Journalist der Tageszeitung „Deccan Chronicle“ wird vier Wochen lang das Leben in Hamburg beobachten und regelmäßig darüber in der MOPO schreiben. Eine Umhängetasche und ein Fahrrad hat er schon.

Philipp Dudek
veröffentlicht am 25. März 2012 in der Hamburger Morgenpost.