Berlin

Berlin, 18.2.2012: Wären Sie gerne Arbeitsreisender?

 © Innovative: In one's niche. Foto: Daniel Seiffert/ betahaus/ Berlin Coworking ist der neue Hype unter den jungen Kreativen. Erschwingliche Lebenshaltungskosten und niedrige Mieten machen Berlin zum perfekten Standort.

Wir leben im Zeitalter der „digitalen Bohème“. Noch vor einigen Jahren galten sie als trendige Intellektuelle, die im Café an glänzenden Macbooks arbeiteten und dabei Latte schlürften. Heute, in Zeiten der High-Speed-Internetverbindungen, der Smartphones im Dauer-Onlinebetrieb und des Cloud-Computings entwickeln sie sich in eine bemerkenswerte, einflussreiche und vernetzte Community.

Da sich immer mehr hoch qualifizierte junge Berufstätige für selbst bestimmte Arbeitszeiten und gegen das tägliche Pendeln, tyrannisierende Chefs und unflexible Arbeitsbedingungen entscheiden, wächst um sie herum nun eine gesamte Branche, die sie in dieser Entscheidung unterstützt. Die sogenannten „Coworking Spaces“ bieten alles, was man für ein Büro braucht, und dazu noch jede Menge Extras, vom Steuerberater bis hin zum Masseur. Mit den niedrigen Mieten und erschwinglichen Lebenshaltungskosten entwickelt sich Berlin zu einem dynamischen Katalysator der Bewegung und zieht kreative Menschen aus der ganzen Welt an.

Im Betahaus bietet das Frühstück am Donnerstag allwöchentlich Vernetzungsmöglichkeiten. Das Betahaus ist einer der bekanntesten Coworking Spaces Berlins und wird auch als „Mischung aus Wiener Kaffeehaus, Bücherei, Home-Office und Universitätscampus“ beschrieben. Beim Frühstück an einem langen, mit Brotkörben, Käse und Marmelade beladenen Tisch stellen sich Software-Entwickler, Künstler und Unternehmer gegenseitig vor.

Nico zum Beispiel ist gerade auf der Suche nach einem Arbeitsplatz in einem Coworking Space. Er hat sich bisher rund zehn angeschaut, die zwischen € 200 und € 400 im Monat kosten. Während das Betahaus beispielsweise kostenlose Internetnutzung für jeden bietet, muss man Mitglied sein, um die Büroflächen im Obergeschoss nutzen zu können, wo weitere Einrichtungen angeboten werden. Es ist viel praktischer, Mitglied eines Coworking Space zu werden, sagt er, als ein Büro zu mieten. „Wir sind nur zu zweit – und wir brauchen nur an einem oder zwei Tagen die Woche einen Arbeitsplatz. Für eine Büromiete muss man mindestens € 500 bis € 700 aufbringen. Dazu kommen noch die Kosten für Internetanschluss, Strom, Drucker …. Hier ist die Infrastruktur bereits vorhanden. Wenn man etwas anderes machen möchte, geht man einfach wieder. Man verliert nichts.

Beim Betahaus kann man entweder ein Tagesticket lösen (€ 12) oder man entscheidet sich wie Erika Riesenkampff, Initiatorin der virtuellen Kunstgalerie „Reign of Art”, dafür, 12 Tage im Monat zu buchen (€ 79). „Wir mussten aus dem Haus rauskommen“, sagt sie und spricht davon, dass Coworking inspirierend ist. „Wir vernetzen uns. Tauschen Ideen aus. So lebt man nicht in einer kleinen Blase für sich. Man erlebt, was drumherum alles geschieht.“

Beim Frühstück lädt Madeleine Mohl, eine der Gründerinnen des Betahauses, alle ein, sich vorzustellen. Dieser Treffpunkt ist ein Schmelztiegel für kreative Ideen aller Art. Andreas Stammnitz erklärt seine Kartenpuzzles. Dann gibt es noch „FigureRunning”, ein Sport, bei dem eine Figur, z.B. ein Hase, auf einem GPS-fähigen Gerät eingezeichnet und die Strecke abgelaufen wird. „Up Cycle It” bietet Anregungen zum kreativen Abfallrecycling. Umweltbewusstsein ist oft auch ein Aspekt des Coworkings. „Mit dem täglichen Pendeln aufhören“, sagt Dagmar Gester, freiberufliche Fotografin, und spricht darüber, dass es im heutigen Zeitalter der Computer zu viele Ressourcen bindet und gar nicht nötig ist, ins Büro zu fahren.

Keine richtige Wände

Oliver Stark betreibt seine Plattform gemeinsam mit drei Kollegen in einem festen Team Room im Betahaus (€ 800). „Ehrlich gesagt ist es nicht so viel günstiger als ein Büro”, sagt er, „aber wir bekommen viel Presseaufmerksamkeit. Und das ist so viel wert.” Vor anderthalb Jahren kündigte er seine Stelle bei Puma, zog hierher und gründete Doonited. Das Unternehmen verbindet zwei globale Trends - Social Networking und Social Responsibility. „Ich möchte in keinem Büro mehr sitzen. Hier gibt es gar keine richtigen Wände.”

„2009 studierte ich in Berlin Geschichte und Literatur. Außerdem arbeitete ich bei einer studentischen Agentur, die junge Menschen für Politik interessieren möchte. Dabei haben wir mit vielen kreativen Menschen zusammengearbeitet“, erzählt Madeleine davon, wie sie auf die Idee gekommen ist. „Angefangen haben wir haben mit sechs Leuten und ohne Geld. Die Leute mussten ihre eigenen Schreibtische mitbringen. Wir hatten einen hässlichen Kaffeeautomaten“, lacht sie. „Nach einem Monat platzten wir aus den Nähten. Die Leute waren auf der Suche nach solchen Büros. Die Krise hatte begonnen. Die Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Sie brauchten diese Infrastruktur.” Nachdenklich fügt sie hinzu: „Wir waren die Gewinner der Wirtschaftskrise.”

Obwohl es fast 200 aktive Nutzer gibt, kommen die meisten nicht jeden Tag. „Daher bieten wir auch Mitgliedschaften für fünf oder zwölf Tage im Monat an – ein Drittel der Leute nehmen dieses Angebot in Anspruch.“ Inzwischen hat das Betahaus Filialen in Hamburg, Köln und Barcelona eröffnet, aber Berlin wird immer der Mittelpunkt bleiben. „Hier gibt es viele kreative Menschen. Raum ist günstig. Es entstehen ständig neue Ideen. Ein idealer Platz zum Austoben.”

In Berlin ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch und für Freiberufler wird es immer schwieriger, an Aufträge zu kommen. „Dieser Monat war schwierig. Einige haben ihre Mitgliedschaft ausgesetzt. Wir versuchen Investoren, Berater für sie zu finden. Bieten Gespräche mit Computerleuten, Rechtsanwälten, Steuerberatern an.“ Doch das wichtigste, was sie anbieten, ist eine Plattform für das Networking.

Hochqualitativer Wert wird nach ihrer Überzeugung heute nicht mehr in klassischen Büros geschaffen, sondern dadurch, dass Teams und Standorte in einem ständigen Wandel begriffen sind. Durch digital vernetzte Workspaces in einem kollaborativen Umfeld. Vor diesem Hintergrund sind auch Initiativen wie „Deskswap” zu verstehen, bei dem Mitglieder des Betahauses ihre Arbeitsplätze mit denen der „Startup Garage“ tauschen können, dem größten Coworking Space Ostafrikas in Nairobi (Kenia).

Für diejenigen, die es etwas persönlicher mögen, gibt es familiärere Konzepte wie „The Wostel“. „Wir sind Arbeitsreisende”, sagt Chuente Noufena, die das Wostel gemeinsam mit Marie Jacobi betreibt. „Einen Monat arbeiten wir von Frankreich aus, den nächsten von Deutschland. Anstatt Gepäck haben wir Laptops dabei.“ Das Wostel ist klein, und genau so gefällt es ihnen. „Man trifft sich alle zwei Monate auf einen Drink. Redet miteinander. Knüpft Kontakte…”. Und durch die Vermietung des gemütlichen Hauses mit Vintage-Ambiente für Seminare verdienen sie auch Geld. „Nokia und Ebay haben es schon angemietet. Sie sagen, dass es ein wohltuender Kontrast zu den Hotels mit ihren kühlen, weißen Wänden ist.“

Coworking Space im Designerstil

Das schicke, gut besuchte Sankt Oberholz im Herzen Berlins beherbergt ein Café, das den ganzen Tag mit Journalisten, Textverfassern, Designern und Programmierern gefüllt ist. Im Obergeschoss gibt Ansgar Oberholz seinem neuen Coworking Space im Designerstil den letzten Schliff – mit allem Drum und Dran für die Mitglieder, darunter einem Schlüssel für 24/7-Zugang. „Berlin ist eine Stadt der Freiberufler und wir sind zentral gelegen“, erklärt er die hohe Beliebtheit des Sankt Oberholz. Es war eines der ersten Cafés, das zum Arbeiten einlud – durch kostenloses Wifi, zusätzliche Anschlüsse und entsprechend eingestelltes Personal. „Viele Leute sagen, ‚Oh, auf unsere ursprüngliche Idee sind bei Euch gekommen’. Die von Amen zum Beispiel.“ Amen, in der internationalen Presse häufig als „das mysteriöse Berliner Startup“ bezeichnet, war so erfolgreich, dass es die Unterstützung von Ashton Kutcher und Madonna-Manager Guy Oseary erhielt und Index Ventures darüber hinaus rund 2 Mio. Dollar investierte. Auch die Wurzeln der Plattform SoundCloud, die mehr als sieben Millionen Nutzer haben soll, liegen im St. Oberholz. Erfolgsgeschichten wie diese bringen die Coworking-Bewegung voran.

„Vor sechs Jahren haben wir angefangen und uns als Café einen Namen gemacht, in das man seinen Laptop mitbringen kann. Natürlich gibt es immer auch Leute, die das ausnutzen – die einen Espresso kaufen und den ganzen Tag hier arbeiten, ihren Laptop und ihr Handy bei uns aufladen – und uns im Endeffekt Geld kosten. Aber die meisten Leute verstehen das Konzept. Sie treffen sich mit Leuten, etwa zu einem Geschäftsfrühstück. Einige bleiben zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen“, sagt Ansgar. „Das ist dann so ein Mittelding zwischen Büro und zu Hause“.

Er warnt davor, das Dasein als Freiberufler allzu romantisch zu sehen. „Man muss sich selbst Ziele setzen und sie erfüllen. Jeder kämpft um Aufträge. Und was für Aufträge? Einen Katalog über 200 Ersatzschrauben übersetzen. Auch das ist eine freiberufliche Tätigkeit”.

Doch es gibt viele Menschen, die einfach der Arbeit nachgehen wollen, die sie gerne mögen, unabhängig von den finanziellen Risiken. „Wenn man in Westeuropa jung und gut ausgebildet ist und wirklich Arbeit finden möchte, dann bekommt man sie auch. Es gibt keine Wirtschaftskrise. Die Leute wollen diese Jobs einfach nicht mehr. Sie möchten einer Arbeit nachgehen, die sie erfüllt, bei der sie sich gut und frei fühlen. Das ist wichtiger als finanzielle Sicherheit.”

Shonali Muthalaly
veröffentlicht am 18. Februar 2012 in The Hindu.
Übersetzt von Angela Selter.