Bangalore

Bangalore, 12.5.2012: Indien kennt (noch) keine Zeitungskrise – Interview mit dem Chefredakteur des Deccan Herald

 © Kerstin DeckerIndien ist der größte Zeitungsmarkt der Welt, 100 Millionen Zeitungen werden hier verkauft – täglich, an sieben Tagen pro Woche. Die Printmedien führen klar das Medienangebot an. Warum die Auflagen sogar weiter wachsen, während in Europa und Amerika die Presse in einer tiefen Krise steckt, darüber sprach LVZ-Redakteurin Kerstin Decker mit K Subrahmanya, Chefredakteur der Tageszeitung Deccan Herald in Bangalore (Indien).

Wie versorgen sich die Menschen hier in der Zehn-Millionen-Metropole Bangalore mit Informationen?

K Subrahmanya: Wir haben hier mehr als 30 wichtige Zeitungen, zwölf englischsprachige, acht in der Landessprache Kannada, weitere in Hindi, Tamil und Malayalam. Außerdem gibt es um die zehn regionale Fernsehsender, zehn Radiostationen, sowie natürlich alle nationalen und sehr viele internationale TV-Kanäle. Was das Radio betrifft: Nur das staatliche All India Radio darf Nachrichtenprogramme verbreiten, die Privatradios müssen sich auf Musik und Unterhaltung beschränken. Zeitungen haben eine hohe Glaubwürdigkeit von fast 100 Prozent, die Fernsehkanäle kommen nur auf 40 Prozent.

Die Zeitungen sind hier nahezu gratis, kosten zwischen 1,50 und 5,50 Rupien (2 bis 9 Cent). Warum werden keine kostendeckenden Preise verlangt?

Das ist eine 25 Jahre alte Geschichte. Die Zeitungen waren in Indien traditionell immer auf eine Stadt beschränkt. Mitte der Achtzigerjahre begannen sie sich überregional auszubreiten, damit war der Konkurrenzkampf eröffnet. Als erste startete die Times of India 1985/86 in Delhi eine Preisoffensive, sie wurde billiger als alle anderen Zeitungen in der Stadt. Die zogen dann natürlich nach. In den Neunzigerjahren fielen überall die Preise für Zeitungen, statt zu steigen. Die Bevölkerung wuchs, die Auflage wuchs, die Preise fielen, und so begannen die Leute, zwei Zeitungen zu lesen. Eine für die lokalen Neuigkeiten und eine fürs Geschäft. Dieses Modell läuft bis heute. Und je besser gebildet die Leute sind, desto mehr Zeitungen werden verkauft. Deshalb wachsen die Auflagen weiter.

Aber das Preismodell kann doch nicht über Jahrzehnte funktionieren? Warum hebt niemand die Preise an?

Sie müssten sich eigentlich verdoppeln, vor allem weil die Druckkosten sehr hoch sind, aber kein Verlag hebt sie an. Dann würde es mit unseren Zeitungen schneller bergab gehen als in Europa. Wenn ich die Zeitung für acht oder zehn Rupien verkaufe, geht die Auflage sofort nach unten, sagen wir von 200.000 auf 150.000, und die Konkurrenz macht das Geschäft. Keiner wagt es deshalb, die Zeitungspreise zu erhöhen. Die Lücke gleichen wir mit Anzeigen aus, aber das können nur die Großen mit einer hohen Auflage.

 © Kerstin Decker
Chefredakteur Subrahmanya: „Keiner wagt es, die Preise zu erhöhen“ (Foto: Kerstin Decker)
In Europa und Amerika verlieren die Printmedien sowohl viele ihrer Anzeigenkunden als auch die jüngeren Leser ans Internet, wo es kostenlose Informationen gibt. Indien dagegen ist der größte Zeitungsmarkt überhaupt ...

Stimmt, die Krise ist hier noch nicht angekommen. In Bangalore können sich vielleicht 50 Prozent der Bevölkerung einen Laptop leisten, in ländlichen Bereichen mögen es nur 10 Prozent sein. Da der Bedarf auf dem Land sehr gering ist, ist auch der Zugang zum Internet sehr schwer. Ich denke aber, in zehn bis 15 Jahren werden wir den gleichen Weg gehen. Beim Deccan Herald haben wir eine Online-Abteilung von derzeit sieben Leuten, die wollen wir auf zehn Leute erweitern. Das ist eine Investition in die Zukunft. Leider haben wir keinen eigenen TV-Kanal, das würde als Geschäftsmodell Sinn machen: eine englischsprachige Zeitung, eine Zeitung in der Sprache Kannada, eine Webseite sowie TV und dazu möglichst noch Radio.

Im Verlag des „Deccan Herald“ erscheint auch die Zeitung „Prajavani“ in Kannada, der Landessprache des Bundesstaates Karnataka. Worin unterscheiden sich beide Blätter und wie profitieren sie voneinander?

Die Auflage des Deccan Herald liegt bei 200.000 Exemplaren, Prajavani verkauft 550.000. Beide Redaktionen sitzen im gleichen Haus. Beim Deccan Herald arbeiten rund 200 Journalisten, bei Prajavani 100 Festangestellte und 200 Teilzeit-Journalisten. Der Deccan Herald hat ein großes Netzwerk außerhalb des Bundesstaates Karnataka, Prajavani dagegen ist sehr stark lokal verwurzelt. Deshalb können Informationen ausgetauscht werden. Aber das eindeutig größere Anzeigengeschäft machen wir mit dem Deccan Herald, weil die Kunden, die eine englischsprachige Zeitung lesen, das größte Anzeigenpotenzial auf sich ziehen.

Was glauben Sie, wie sieht die Rolle eines Printjournalisten in zehn oder 15 Jahren aus?

Journalisten sind wichtig und werden immer wichtig sein, selbst wenn die eine oder andere Zeitung nicht überlebt, denn sie sind es, die die Informationen liefern. Webseiten und TV-Kanäle können ihre News 24 Stunden am Tag updaten. Bei den Zeitungen hat sich da auch sehr viel entwickelt, früher hatten wir 20 Uhr Redaktionsschluss, heute können wir bis ein Uhr nachts aktualisieren. Aber für die Erstinformation wird die Zeitung nicht gebraucht, die Leute wollen nicht noch mal lesen, was sie schon gehört haben. Zeitungen können Details und Hintergründe liefern, die die anderen nicht bieten. Sie müssen Geschichten bringen, die jeder lesen will. Was die deutsche Bundeskanzlerin Merkel sagt, das veröffentlichen alle. Aber die Leute würden gern wissen, was ihr Mann von der Politik seiner Frau hält. Man kann ihn doch fragen, er hat seine eigene Meinung. Das muss man nicht zur Sensation aufbauschen, aber interessant erzählen. Dann werden TV-Kanäle und Webseiten die Geschichten aufgreifen und dich fragen, wie du sie bekommen hast.

Aber wie sollen Journalisten interessante und exklusive Geschichten herbeischaffen, wenn aus Kostengründen Personal abgebaut wird und sie zusehen müssen, wie sie jeden Tag viele weiße Seiten füllen.

Um andere Geschichten zu erzählen, braucht man mehr Journalisten. Es ist ganz leicht, zur Regierung zu gehen und mit drei Artikeln wiederzukommen, aber diesen ganzen Nonsens will ich nicht. Die Verlage müssen nicht Millionen Dollar in Webseiten investieren, in der Hoffnung, später mal Gewinn damit zu machen. Sie müssen in Personal investieren, damit sich ihre Zeitung von anderen unterscheidet. Bringt interessante Geschichten, dann braucht ihr nicht über den Niedergang der Zeitung zu reden! Das ist meine Meinung.

K Subrahmanya ist 52 Jahre alt und arbeitet seit 1991 als Journalist. Seine Themengebiete sind Politik, Diplomatie und Verteidigung. Als politischer Korrespondent ist er in 35 Länder gereist, hat häufig den indischen Premierminister begleitet und über den Afghanistan-Krieg berichtet. Er hat einen Master in Politikwissenschaften, vor seinem Wechsel zum Journalismus arbeitete er in Delhi in einem Institut für Verteidigungsstrategie und Analyse.
Das Interview führte Kerstin Decker.
Veröffentlicht am 12. Mai 2012 in der Leipziger Volkszeitung.
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