Berlin, 26.11.2011: Die unendliche Flüchtigkeit des Stadtbildes
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Drinnen ist es dunkel. Schrilles Graffiti an den Wänden liefert sich einen Wettstreit mit abblätternden Postern. Die Türen schwingen über ein Flaschenzugsystem auf, das mit Hilfe alter, sandgefüllter Flaschen konstruiert wurde. Der Künstler Axel Void führt uns im Licht seines Handys und erklärt, wie dieses ehemals von Künstlern besetzte Haus in Berlin-Friedrichshain kürzlich legitimiert wurde, als die 50 Bewohner das riesige, mit Postern gepflasterte Gebäude gemeinsam aufkauften.
Keine ungewöhnliche Geschichte in Berlin, wo Kunst und Kapitalismus einen verbissenen und scheinbar endlosen Kampf miteinander ausfechten. Streetart, die aufsässigste Subkultur der Stadt, gewinnt auf internationalem Parkett rasant neue Anhänger – und begeisterte Käufer. Kürzlich wurden auf der als „unkonventionell und kompromisslos” angekündigten Stroke Artfair Straßenkünstler und Grafikdesigner im Rahmen einer Ausstellung präsentiert, die eher kommerziell als kantig daherkam, mit geschäftsmäßigen Ständen, an denen man Einblick in die Kataloge und saftigen Preise nehmen konnte.
Kann eine Subkultur, die ihren subversiven Charakter aufgegeben hat, überleben? Schließlich zieht die Streetart ihre Kraft doch daraus, dass sie illegal ist. Die Künstler werden bewundert, weil sie am Rande der Gesellschaft leben. In den romantischen Vorstellungen nehmen sie Nacht für Nacht große Risiken auf sich, für die sie keinen anderen Lohn erhalten als die Gewissheit, einen seelenlosen städtischen Raum durch ihre Kunst verwandelt zu haben.
Ein Drama nimmt seinen Lauf
In Berlin kann man gut beobachten, wie dieses Drama seinen Lauf nimmt, da alles hier und jetzt geschieht: die niedrigen Mieten ziehen Künstler aus der ganzen Welt an. Sie vernetzen sich über MySpace und Facebook und im Kerzenschein verräucherter, heruntergekommener Kneipen. In den frühen Morgenstunden ziehen sie in die Straßen und bemalen Wände und Gebäude mit Sprühdosen, Schablonenmotiven und riesigen, aufwändig von Hand gemalten Postern. Einige davon haben Talent. Andere nicht. Doch gemeinsam verändern sie das Gesicht der Stadt unablässig mit ihrer Kunst, die unendlich flüchtig ist: sie kann jahrelang erhalten bleiben oder in 24 Stunden ausgelöscht werden.
In einem ausgebombten Bahnbetriebswerk in Friedrichshain, einem berühmt-berüchtigten Schauplatz für antikapitalistische Demos, Szene-Musik-Acts und spektakuläres Graffiti, erklärt der Kunsthistoriker und Maler Georg Zolchow, wie die Berliner Straßenkultur durch den Fall der Mauer wieder auflebte. Georg leitet den Graffiti-Workshop für Alternative Berlin, ein Unternehmen, das Touristen in die faszinierende Unterwelt der Stadt eintauchen lässt. „Die Künstler aus dem russisch besetzten Osten fanden sich in einer komplett fremden Welt wieder. Sie besetzten Häuser, die vorher dem Staat gehörten. Und begannen zu malen.”
Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Graffiti und Streetart erklärt Zolchow, dass beim Graffiti immer wieder der eigene Name als Motiv dient. „Man spielt mit den Schriftarten … lässt sie tanzen, geht spielerisch damit um. Streetart ist urbane Kommunikation.“ Was sie gemeinsam haben, ist das Rebellische. Urbane Kunst ist frech, kritisch und sucht die Konfrontation.
Auf einem Schutthaufen balancierend zeigt Axel Void auf sein jüngstes Werk: ein Fassadengemälde einer zerstückelten Ratte. “Wir wollen demnächst auf der gegenüberliegenden Terrasse frühstücken”, sagt er verschmitzt grinsend. Es lässt sich nicht leugnen, dass dieses Werk für die Straße gedacht ist, nicht für die gesittete Vorstadt. Und doch übt urbane Kunst inzwischen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Käufer aus, die ihre Sammlungen aufpeppen möchten.
Die legendären Banksy-Werke erzielen Verkaufspreise in Höhe von mehreren zehntausend Pfund. Wenn der Künstler eine Mauer besprüht, wird sein Werk entweder von einem Sammler herausgeschnitten oder mit einer Schutzschicht aus Plexiglas versehen. Obwohl das Ganze rechtswidrig ist, steigt der Wert des bemalten Gebäudes dadurch. Zu den Käufern urbaner Kunst gehören Prominente wie Brad Pitt und Christina Aguilera, aber auch clevere Anleger, die es auf hohe Gewinne absehen.
Das Paradoxe ist, dass der Antikapitalismus die treibende Kraft dahinter ist. „Reclaim the streets – Erobert die Straßen zurück“ ist ein viel zitierter Slogan auf Berliner Wänden und Mauern. „Wir müssen uns die Stadt wieder zu Eigen machen. Berlin ist voller Werbung. Ich finde es wichtig, dass man da draußen nicht nur Kommerzielles sieht“, sagt Alias, dessen kraftvolle schwarz-weiß-rote Bilder versonnener kleiner Jungen und kecker Hunde mit Schals ihn berühmt gemacht haben. Wo Graffiti verschwindet, wird die Stadt gentrifiziert und die Mieten schießen in die Höhe. „Wem gehört die Stadt denn letztlich? Den Vermieten, die woanders leben? Den Firmen, die für etwas werben? Oder den Menschen, die hier leben?”
Kontakt mit Kommerz
Viele Künstler machen ihre ersten Schritte im Rahmen von Bürgerinitiativen. Alias war 14, als er im Dorf seiner Eltern mit dem Sprühen begann, um gegen ein geplantes Atommüll-Endlager zu protestieren. Er hat seinen eigenen Ethikkodex: „Ich arbeite vor allem auf alten Wänden. Sie werden von mir nicht verunstaltet, sondern aufgewertet.” Er sagt, es sei wichtig, dass sich seine Werke an verkehrsreichen Straßen befinden. „Ich transportiere eine Emotion. Wie und wo ich das tue ist wichtig; ich muss Menschen erreichen.”
Vor rund fünf Jahren nahm eine Galerie über MySpace Kontakt mit ihm auf, es folgte eine erfolgreiche Ausstellung in Hamburg. Jetzt vertreibt er seine Werke regelmäßig in Galerien und bietet Drucke seiner Werke zur je 300 Euro an. „So kann ich meine Arbeit auf der Straße gut finanzieren. Jede Sprühdose kostet € 3,80. Ich verwende Kunstdruckpapier. Das wird mit der Zeit teuer.” Der kommerzielle Aspekt scheint ihm nicht ganz zu behagen. „Es ist irgendwie merkwürdig. Darum arbeite ich für Galerien auch nicht auf Leinwand, sondern auf Materialien, die man auf der Straße findet, Holz und Metall etwa.“ Paradoxerweise ist Authentizität eine entscheidende Voraussetzung für den Verkaufserfolg. „Einer meiner Fans hat mich damit beauftragt, für 600 Euro sein Haus mit Graffiti zu besprühen. Das war total komisch, da fährt mich ein reicher Mann in einem dicken Wagen zu seinem Haus. Für ihn ist das hip. Für seine Freunde eine kleine Revolution.”
Der geheimnisvolle El Bocho, einer der dynamischsten Künstler der Stadt, kleistert seine bunten Poster quer über Hauseingänge, Treppenhäuser und riesige Wände, gibt heruntergekommenen Flächen ein neues Gesicht. Seine bekannteste Figur ist Little Lucy, ein Mädchen, das schlimme Sachen mit ihrer Katze anstellt. „Politische Statements sind mir zu einfach … ich erzähle Geschichten. Ich versuche, etwas Positives in meine Werke hineinzubringen; es geht schließlich um Kunst im öffentlichen Raum und da möchte ich ein gutes Gefühl erzeugen.”
Wie die meisten Streetart-Künstler arbeitet er nachts. „Die Stimmung, die Farben sind dann anders … Die plötzliche, explosionsartige Verwandlung einer urbanen Fläche durch ein riesiges, unerwartetes Poster fasziniert mich.“ Von neuen Gebäuden hält er sich fern, zieht eine Grenze zwischen Kunst und Vandalismus. „Manchmal ist es schwierig, Flächen zu finden – ich kann Graffiti nicht übermalen, weil es sonst zu einem Krieg kommt.”
Die Werke des 33-jährigen El Bocho erzielen in Galerien bereits zwischen 3000 und 10 000 Euro. Auf der Straße werden seine Werke daher immer wieder von geschäftstüchtigen Langfingern mit Ebay-Konten entwendet. „Ich bin ein Produkt“, fügt er hinzu. „Bin ich deswegen ein Verräter? Auf der Straße sehen viel mehr Menschen meine Arbeiten als es in der Galerie der Fall wäre. Wenn ich den Kapitalismus auf der Straße kritisieren und dann meine T-Shirts für ein paar Euro im Geschäft verkaufen würde, wäre das verlogen. Aber so schaffe ich meine eigenen Werke und verkaufe sie zu einem Preis, den ich selbst bestimme. Dadurch respektiere ich meine eigene Kunst.“
El Bocho übernimmt Design-Aufträge, illustriert politische Zeitungskolumnen, gestaltet CD-Cover für die Musikbranche und besitzt eine Galerie. Seine Arbeiten auf der Straße sind der Antrieb für andere Projekte. “Was das Geschäftliche angeht – den Leuten gefällt die Vorstellung, dass ein junger, wilder Künstler aus Berlin für sie arbeitet”, sagt er lachend. „Ich finde meine Arbeiten in der Galerie genauso kraftvoll wie die auf der Straße.“ Hinter seiner strikten Anonymität stehen ganz praktische Erwägungen. „Wenn ich Fernsehinterviews gebe, trage ich eine Maske, nicht weil meine Arbeit kriminell ist, sondern weil ich unbehelligt arbeiten möchte, ohne dabei fotografiert zu werden. Meine Nachbarn sollen nicht wissen, dass ich El Bocho bin.”
Zurück zum 25-jährigen Axel Void im ehemals besetzten Haus, soeben zurückgekehrt von einer erfolgreichen Ausstellung in Palermo unter dem Titel „Nothing New For Trash Like You“, wo er mit der Erstellung von drei Wandgemälden beauftragt worden war. Er sagt, es sei nicht fair, dass sich Künstler zwischen Streetart aus Leidenschaft und Geschäftserfolg entscheiden müssten. „Wenn ich sage, ich nehme rot, bedeutet das nicht, dass ich dann kein blau mehr nehmen kann. Für mich ist Malen etwas, das ich gerne mache. Ich mache etwas, das ich für ästhetisch halte. Und natürlich muss ich meinen Lebensunterhalt bestreiten, also muss ich nach Wegen suchen, wie das funktionieren kann.”
Verrat?
Kunsthaus Tacheles, ein bizarres, bunt bemaltes fünfstöckiges Gebäude, hat sich in nur einem Jahrzehnt vom Nervenzentrum subversiver Kunst zur Touristenfalle entwickelt. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 wurde es von einer Künstlerinitiative besetzt und zu einem wichtigen Zentrum der urbanen Kunstszene in Berlin. Heute werden die Bewohner trotz der mit Graffiti übersäten Wände und der beliebten Veranstaltungen der elektronischen Musikszene und trotz Tausender faszinierter Besucher von lokalen Künstlern als „Verräter“ bezeichnet. Der überteuerte Ramsch, der im Innern an Touristen verkauft wird, verstärkt diesen Eindruck noch. Dem Tacheles droht derzeit der Abriss. Die Bewohner kämpfen für den Erhalt des Gebäudes und wenden sich mit Spendenaufrufen und Unterschriftenaktionen an die Besucher. Sie möchten ein „autonomes internationales Kunst- und Kulturhaus“ daraus machen. Doch auf der Straße heißt es, dass das Tacheles wohl keine ernsthaften Überlebenschancen mehr hat.
veröffentlicht am 26. November 2011 in The Hindu.
Übersetzt von Angela Selter.