Stuttgart

Stuttgart, 31.12.2011: Wie Anja zu meinem "Wallah" wurde

 © Anja Wasserbäch und Sukhada Tatke in Stuttgart © Foto: Anja WasserbächIm Jahr 2011 tauschten sie ihre Arbeitsplätze: Sukhada Tatke, Redakteurin in Mumbai, kam nach Stuttgart. Zuvor war unsere Redakteurin Anja Wasserbäch einen Monat in Indiens Megacity Mumbai. Der Kulturschock war groß. Auf beiden Seiten. Sukhada Tatke erinnert sich an Deutschland.

Kommunikation

Als Anja nach Mumbai kam, lachte sie immer darüber, wie wir ständig und überall an unseren Handys hängen. Es war eine ihrer ersten Beobachtungen: „Die Menschen hier sind besessen von ihren Handys“, sagte sie. Mir war nicht klar, was sie damit meinte. Ich lächelte und schaute wieder auf mein Handydisplay. Erst als ich nach Deutschland kam, merkte ich, was sie damit meinte. In meinem Büro in Mumbai hat jeder Reporter mindestens vier Chat- Fenster zugleich geöffnet. Während der Arbeit. Das heißt aber nicht, dass wir nicht arbeiten. Wir haben eben das ständige Bedürfnis zu kommunizieren. Mit Freunden weit entfernt oder mit denen, die nur zwei Meter weg im gleichen Gang sitzen. In Stuttgart chatten die Menschen nicht viel und benutzen auch ihre Handys viel weniger. Wenn ich versucht habe, jemanden anzurufen, ging meistens nur die Mailbox ran. Andere ließen es unendlich lange klingeln, bis ich auflegen musste und mich fragte, warum die Leute überhaupt ein Handy besitzen, wenn sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Wenn wir daheim Zeit totschlagen wollen, rufen wir einfach Freunde an. Wenn der erste, den wir anrufen, gerade beschäftigt ist, rufen wir den nächsten an – und quatschen mit ihm, so lange wir wollen. Einfach so. Ohne Grund. In Deutschland ist mir so etwas nicht oft aufgefallen. Es würde mich nicht wundern, wenn die Deutschen mir damit zeigen wollten, dass sie keine Zeit zum –Totschlagen haben. Das Lustigste aber war, als ich mitbekam, dass sich Freunde Tage im Voraus per E-Mail für einen Samstagabend verabredet haben. Es gibt in Deutschland nichts, was spontan gemacht wird. Die Deutschen müssen sogar in ihren Kalender schauen, um sich mit Freunden und der Familie zu verabreden. Das Kommunikationssystem aber funktioniert. In dem Monat in Stuttgart habe ich festgestellt, dass ich tatsächlich auch ohne mein Mobiltelefon auskommen kann und dass es möglich ist, von Angesicht zu Angesicht mit den Menschen zu reden.

Arbeit

Als Erstes fiel mir hier im Stuttgarter Büro die steife Atmosphäre auf. Von der Kleidung über das Verhalten bis zu den flüsternden Stimmen – alles schien mir organisiert und sehr formell. Zu Hause in Mumbai geht es auch im Büro ungezwungen und chaotisch zu. Wir ziehen uns nicht so förmlich an. Wenn ein Mann einen Anzug trägt, geht er zu einer Hochzeit, wenn nicht sogar zu seiner eigenen. Hier in Indien wissen wir mehr von unseren Kollegen: Wir kennen den genauen Beziehungsstatus, wir wissen, wer mit der Schwester von Kollege X ausgeht, was der Bruder des Großvaters beruflich macht. Ich war erstaunt, dass manche in Stuttgart nicht mehr als den Namen des Kollegen kennen und die Themen, über die er schreibt.
Auch die Arbeitskultur ist eine andere. Ich spreche meine Chefs mit Vornamen an, schicke ihnen eine SMS, in der ich meine Geschichten aufzähle. In Stuttgart haben nicht einmal alle Mitarbeiter die Handynummern ihrer Chefs. Ich frage mich, wie sie eine exklusive Geschichte durchgeben.
Ich liebe in Stuttgart die professionellen Arbeitsabläufe. Ich war überrascht, dass es hier so etwas wie feste Arbeitszeiten gibt. Ich wünschte mir einen solchen Luxus in Mumbai. Es gibt Tage, an denen man eigentlich nicht aus dem Büro kommt. Wir arbeiten ohne Pause. Ohne Urlaub. Und wir machen das sogar, ohne uns zu beschweren. Ach.

„Wallahs“

Das Wort „Wallah“ gibt es in Indien in dieser Form eigentlich nicht. Also nicht ohne Zusatz. Anja aber war so fasziniert von der Tatsache, dass wir für alles unsere „Wallahs“ haben, dass sie es einfach ohne Präfix verwendete. „Wallahs“ sind Menschen, die arbeiten, um uns das Leben einfacher zu gestalten. Mir war nicht klar, wie sehr wir von ihnen abhängig sind, bevor ich nach Stuttgart kam. Wir haben im Büro einen „Chaiwallah“, der dreimal am Tag zu unserem Schreibtisch kommt, uns Kaffee und Tee serviert, um ein paar Minuten später das benutzte Geschirr wieder mitzunehmen. In Stuttgart musste ich mir meinen Kaffee selbst machen, die Tasse danach in die Spülmaschine stellen. In Indien sind wir es gewohnt, dass unsere Kleidung gewaschen und gebügelt, dass unsere Wohnung geputzt, unser Essen von unterschiedlichen Menschen gekocht wird. In Stuttgart gibt es das nicht. Aber Anja gab für mich meinen persönlichen „Wallah“. Mein Aufenthalt machte mir klar, dass wir die Dinge im Leben nicht als selbstverständlich hinnehmen können.

Freizeit

Ich komme aus einer Stadt, die ein massives Platzproblem hat. Es gibt kaum öffentlichen Raum. Wie schön war es, in Stuttgart zu sehen, dass die Menschen draußen Sport machen, sich sonnen, auf Skateboards und Fahrrädern herumfahren. In Mumbai ist jeder in Hektik. Ständig in Bewegung, um irgendwohin oder einfach nur nach Hause zu kommen. Es bleibt kaum Zeit für Freizeitvergnügen. Und es gibt dafür auch keinen Platz für den Durchschnittsbürger. Man kann in Einkaufszentren, ins Kino, ins Café oder Restaurant gehen. Ich liebte es in Stuttgart, dass es hier überall Natur gibt, in der man sich vergnügen kann.

Liebe

Ich war noch nie bei einer Hochzeit, bei der die Braut hochschwanger war. In Stuttgart aber wurde ich zu einer solchen eingeladen. Was für eine wunderbare Erfahrung war es zu sehen, dass zwei Menschen, die seit einigen Jahren zusammen sind, schon ein gemeinsames Kind haben und nun beschlossen hatten zu heiraten. Sogar in den liberalsten Familien in Indien gibt es solche Beziehungen nicht. Es gibt wenige Paare, die bereits zusammenleben (was eine gute Idee ist, um zu sehen, ob man denn auch wirklich zusammenpasst, bevor man sich ewig bindet). Heirat wird immer noch als die einzige Möglichkeit angesehen, um mit einem Partner zusammenzuleben. Man kann lange über die Pro- und Contra- Argumente dieses Systems streiten. Nichtsdestotrotz empfand ich die Offenheit gegenüber Beziehungen und deren Akzeptanz als sehr liebenswert.

Sukhada Tatke
veröffentlicht am 31. Dezember 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

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