Stuttgart

Stuttgart, 3.6.2011: Die Stadt zu meinen Füßen

 © © COLOURBOX.COMGerade als ich den 217 Meter hohen Fernsehturm über den Dächern der Hauptstadt Baden-Württembergs betreten wollte, sagte Frank mir leise: „Viele Leute haben Angst, den Turm zu besteigen. Bei Wind bewegt er sich“. Ich war mir nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte, ging aber trotzdem hinein.

Auf den Fernsehturm, wundervoll am südlichen Rand Stuttgarts gelegen, hatte ich mich besonders gefreut. Auf den Wegen, die ich hier bergauf und bergab zurückgelegt hatte, war mir das hohe, majestätische Bauwerk oft ins Auge gefallen, das immer wieder über den Bäumen hervorlugt: mal hell erleuchtet am Abend, manchmal in glanzvoller Pracht in der Nachmittagssonne. Er erinnerte mich an unseren berühmten 300 Meter hohen Fernsehturm in Worli, den man im Süden Mumbais fast von überall sehen kann. Aber wir betrachten ihn nicht mit dem Stolz, mit dem die Schwaben das tun.

Als ich nach der etwa 15 Sekunden andauernden Fahrt mit dem Aufzug endlich oben ankam, war der Blick atemberaubend. Die gesamte Stadt lag mir zu Füßen: kleine Häuser mit roten Dächern. Blühende Pflanzen, die zum Schutz vor der heißen Sonne Schatten spenden. Schmale Straßen, die sich durch die sanften Hügel winden. Wenn man auf das üppige, schöne Tal mit seiner pulsierenden Stadt schaut, kann man sich die einst vom Krieg gezeichnete Gegend nur schwer vorstellen

Irgendwie bietet sich mir aus allen Perspektiven das gleiche Bild. Manchmal schaue ich aus den Niederungen des Tals nach oben zur Stadt, manchmal schaue ich aus der Höhe auf sie herab. Aus allen Blickwinkeln sieht sie gleich aus. Ob ich mit der Straßenbahn nach Degerloch fahre oder im Teehaus einen Chai trinke, die große Uhr oben auf dem Rathaus tickt immer weiter. Auch den berühmten dreigezackten Stern auf der Mercedes-Benz-Zentrale kann ich von überall sehen. Das Bild der Häuser mit den roten Dächern, die sich eng aneinander gekauert inmitten der neueren Gebäude ringsum behaupten, hat sich mir tief eingeprägt.

Mit seinen glänzenden, neuen Fassaden sieht Stuttgart ganz wie eine typische moderne Stadt aus. Obwohl die Stadt, wie ich erfahre, unter dem zweiten Weltkrieg stark gelitten hat und die meisten Gebäude zerstört oder beschädigt wurden, waren die Fundamente der meisten Bauwerke noch gut erhalten. Als man die Stadt wieder aufbaute, errichtete man die neuen Bauten auf diesen uralten Fundamenten. Also hat mein Bild von Stuttgart als einer Stadt, die Geschichte, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet, eine ganz konkrete Grundlage! Wenn ich mir bewusst mache, dass diese wunderschöne Stadt größtenteils nach dem alten Stadtbild wieder aufgebaut wurde, bekomme ich bei dem bloßen Gedanken an Stuttgart vor dem Jahr 1945 eine Gänsehaut.

Die hügelige Landschaft, in der Stuttgart liegt, hat mir anfangs Respekt eingeflößt und ein mulmiges Gefühl in der Magengegend beschert, doch im Laufe der Wochen ist mir das Auf und Ab auf den gewundenen Straßen ans Herz gewachsen. Bei einer Radtour am Sonntagnachmittag konnte ich hautnah erfahren, wie viele Steigungen es hier tatsächlich gibt. Auf unserem Weg vom Hoppenlaufriedhof zum Stadtstrand, ein künstlich am Neckarufer angelegter Strand, warf man mir vor, dass man wegen mir nur halbes Tempo fahren könne. Und während ich mich keuchend die enormen Anstiege des Schlossgartens hoch kämpfte, lachten meine Begleiter gar über meine schlechte Kondition.

Besonders bemerkenswert finde ich, dass die großen Parks der Stadt alle miteinander verbunden sind. Es ist unglaublich, dass man von einem Garten zum nächsten gelangen und die Stadt so praktisch durchqueren kann, ohne auf die Straße zu wechseln. Auf der Radtour begegnete ich zu meiner Überraschung Eisbären, die denen ähnelten, die ich tags zuvor im Zoo, der Wilhelma, gesehen hatte. Irgendwann wurde mir dann klar, dass ein Garten in den nächsten übergegangen und ich am Rand des Zoos angekommen war. Es handelte sich also um die gleichen Eisbären wie am Tag zuvor.

An weitläufigen Weinbergen und am Neckar entlang zu fahren ist mir nicht nur zur Gewohnheit geworden, sondern hat auch bewirkt, dass ich mir der Schönheit der Natur bewusster bin und mehr zu schätzen weiß, was meine Heimat zu bieten hat. Da ich aus einer Stadt komme, die auf sieben Inseln gebaut ist, bin ich es gewöhnt, jeden Tag das Meer sehen. Doch da es so sehr Teil meines Alltags ist, muss ich zugeben, dass ich ihm nicht die Aufmerksamkeit schenke, die es verdient.

Es war am berühmten Galateabrunnen, dass ich eine Antwort auf eine einfache Frage erhielt. Warum gibt es in der Stadt so viele Treppen? Anja erklärt es mir: „Es gibt mehr als 400 „Stäffele“ in Stuttgart. Wer alle Treppen besteigen will, muss insgesamt 20 Kilometer bewältigen. Es gibt sogar Führungen über die Stäffele.“ Später lese ich, dass die Treppenanlagen noch aus der Zeit des Weinbaus im Nesenbachtal stammen und daher Teil der Stadtgeschichte sind.

Genau das kennzeichnet Stuttgart: es gibt immer wieder Zeugnis vom Heute, und von der Geschichte, die morgen geschrieben wird. Die Rathausuhr tickt friedlich weiter. In der Staatsgalerie ist die Ausstellung „Kriegszeit“ zu sehen. Drinnen bleiben viele Besucher vor einem Plakat von Käthe Kollwitz stehen, das den Titel trägt: „Nie wieder Krieg“.

Sukhada Tatke
veröffentlicht am 3.Juni 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

Übersetzt von Angela Selter

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