Stuttgart, 26.5.2011: „Stuttgart ist und bleibt eine Autostadt“

Sukhada Tatke: Wie kommt es, dass es – trotz der Städtepartnerschaft zwischen Mumbai und Stuttgart – keine direkte Flugverbindung zwischen den beiden Städten gibt? Ich musste in Paris zwischenlanden und rennen, um meinen Anschlussflug zu erreichen, da die Zeit nicht reichte. Gibt es keine Möglichkeit, um die Städte direkt miteinander zu verbinden?
Wolfgang Schuster: Wir bemühen uns nach Kräften darum. In Mumbai gibt es die Jet Airways, die einen Direktflug nach Brüssel anbietet. Ich habe zweimal mit dem Geschäftsführer gesprochen und ihn gebeten, entweder einen Zwischenstopp in Stuttgart einzurichten, da es auf der Strecke liegt, oder einen Direktflug nach Stuttgart anzubieten. Nächsten Januar, wenn ich in Indien bin, werde ich ihn erneut auf die Direktverbindung ansprechen, da dies sowohl für Mumbai als auch für uns ein großer Gewinn wäre und vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten sinnvoll wäre. Mumbai ist das Handelszentrum Indiens und wir sind die exportstärkste Region Deutschlands, und sogar europaweit ganz oben mit dabei, insofern würde das sehr gut passen.
Ist es denn ein Problem, das mit einer deutschen Fluggesellschaft zu realisieren?
Schuster: Wir sprechen nicht über Probleme, nur über Herausforderungen. Hier bei uns fliegt die Lufthansa, doch deren Drehkreuze sind Frankfurt und München. Daher bietet die Lufthansa ab Stuttgart keine Langstreckenflüge an. Diese starten ab München oder Frankfurt. Uns ist bewusst, dass das für uns nicht von Vorteil ist. Wir haben mit der Lufthansa schon viele Gespräche darüber geführt und wir arbeiten daran.
Auf meiner Fahrt vom Flughafen war ich sehr beeindruckt von den vielen Bäumen entlang der Strecke. Ist das gezielt so angelegt bzw. gibt es ein Gesetz, das besagt, wie viele Bäume angepflanzt werden müssen?
Schuster: Erstens haben wir eine lange Tradition als grüne Stadt. Mir war es wichtig – ich bin ja schon lange im Amt, ich bin seit über 14 Jahren Oberbürgermeister – das Land systematisch unter besonderen Naturschutz zu stellen. Wir haben Schritt für Schritt entschieden, rund 40 Prozent unserer Flächen unter Naturschutz zu stellen. An den großen Verkehrsadern stehen zur Zeit ungefähr 100.000 Bäume. Wir haben auch viele Parks. Es gibt hier also kaum eine Wohnung, von der aus man weiter als 300 m gehen müsste, um den nächsten Park zu erreichen. Das ist für die Lebensqualität jedes Einzelnen wichtig. Wir engagieren uns da ganz bewusst und es ist tatsächlich Teil unserer Kultur.
Gibt es also Bestimmungen, die das Fällen von Bäumen regeln, oder ist eine bestimmte Anzahl von Bäumen pro Einwohner vorgeschrieben?
Schuster: Wir haben eine Vorschrift, die das Fällen von Bäumen verbietet. Man braucht dafür eine Genehmigung. Und wenn Bäume ohne Genehmigung gefällt werden, werden strenge Maßnahmen ergriffen. Wer dagegen verstößt, muss eine Strafe zahlen oder Bäume anpflanzen. Oder die Stadt pflanzt die Bäume an und stellt einem das dann in Rechnung. So lautet die Vorschrift – und sie funktioniert. Die Öffentlichkeit hat hier ein geschärftes Bewusstsein, daher besteht auch hoher öffentlicher Druck. Wir ernten viel Widerspruch, wenn Bäume gefällt werden.
Was mich auch sehr beeindruckt hat, sind die vielen freien Flächen in dieser Stadt. Die Fußgängerzone ist zum Beispiel sehr schön. Welche Idee steckt dahinter?
Schuster: Die Idee ist, öffentlichen Raum für die Menschen zurückzuerobern, doch hier mussten wir erst einen weiten Weg zurücklegen. Anfangs glaubte man, dass die Leute wegbleiben würden, wenn sie nicht mit dem Auto zum Einkaufen fahren könnten, da es natürlich praktischer erscheint, vor dem Laden parken zu können. Heute ist selbst dem Handel klar, wie wichtig öffentliche Bereiche sind, die gute Qualität und eine sichere und saubere Atmosphäre bieten, wo man bummeln, Kaffee trinken und einfach das offene Umfeld genießen kann.
Ich habe auf den Straßen viele Autos parken gesehen. Scheinbar werden mehr Autos geparkt als benutzt. Wie kommt das?
Schuster:In Stuttgart gibt es auf 1000 Einwohner 600 Autos. Das bedeutet, dass jeder ein Auto zur Verfügung hat. Man muss also schon sehr attraktive Angebote machen, damit die Leute ein Auto kaufen. Am besten einen Mercedes oder Porsche, da diese hier produziert werden. Und dann legen wir ihnen nahe, das Auto in der Garage zu lassen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Das ist die Strategie.
Warum wäre man dann noch motiviert, ein Auto zu haben?
Schuster: Weil es schön ist, ein Auto zu haben.
Und warum sollte man dann öffentliche Verkehrsmittel benutzen? Wie werben Sie dafür?
Schuster: Wir werben nicht nur für den öffentlichen Verkehr, sondern wir zahlen auch dafür, wir subventionieren ihn. Und wenn Sie bei uns öffentliche Verkehrsmittel benutzen und die Qualität dann mit anderen Städten vergleichen, werden Sie feststellen, dass wir einen sehr hohen Standard bieten. Wir fördern auch das Car-Sharing sowie Mietfahrradstationen. So kann man jeweils das Verkehrsmittel benutzen, das einem am praktischsten erscheint. Wenn sich der Verkehr staut, kann man das dem Internet entnehmen. Auch den aktuellen Stand einer Bahnverbindung kann man online abrufen. Die Idee ist, alles einfach zu machen. Unser öffentlicher Nahverkehr bietet Mercedes-Qualität. Man kann also seinen Mercedes in der Garage stehen lassen und den öffentlichen Mercedes benutzen. Das ist die Idee hinter unserer Philosophie.
Und was ist mit dem öffentlichen Verkehr für die Touristen? Ich bin vier Wochen lang hier, was kann ich tun?
Schuster: Touristen können für die Dauer ihres Aufenthalts ein Ticket kaufen. Außerdem gibt es Touristenbusse, mit denen man eine Rundfahrt machen kann. Wir haben verschiedene Angebote. Selbst wenn man spät abends mit dem Bus fährt, kann man dort anhalten, wo man wohnt, weil es keinen Sinn macht, bis zur nächsten Haltestelle weiterzufahren und dann wieder zurückzulaufen. In der Realität ist das Mobilitätsverhalten doch gemischt. Einen Tag läuft man, den nächsten fährt man mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Hier versuchen wir anzusetzen.
Bevor ich hierher kam, hatte ich beim Gedanken an Stuttgart nur zwei Bilder im Kopf - Mercedes und Porsche. Ist das ein gutes Bild?
Schuster: Das ist ein gutes Bild, weil Mercedes und Porsche zwei Produkte auf höchstem Niveau sind. Es bedeutet, dass wir eine High-Tech-Stadt sind. Auf jeden Fall hatten Sie eine positive Assoziation mit Stuttgart. Dabei überrascht es doch, dass Sie hier keine Industriestadt vor Augen haben. Sie sehen eine sehr grüne Stadt. Sie ist nicht zerstört. Manche glauben, hier müsse es viel Qualm und Industrielärm geben, aber nichts dergleichen. Und das wird auch so bleiben, da die Produktionslinien immer weiter entwickelt werden. Wir haben hier viele Ingenieure und Leute, die neue Sachen erfinden. Obwohl die meisten Flüge nach Frankfurt und München gehen – was den Anschein erweckt, dies seien die wichtigsten Standorte – werden die meisten Erfindungen hier getätigt.
Auf der Straße habe ich einen offenen Gemüsemarkt gesehen, das hat mich beeindruckt. Ich dachte, in westlichen Ländern gäbe es alles in Einkaufszentren und Supermärkten. Fördern Sie solche Märkte?
Schuster:Wir sind sehr stolz auf unsere Bauern hier. Obwohl es sich um kleine Landwirtschaftsbetriebe handelt, können sie ihre Produkte verkaufen. Sie können keine großen Mengen erzeugen, da sie keine Massenbetriebe haben. Sie brauchen also eine direkte Verbindung zum Markt. Märkte dieser Art haben wir in allen Stadtteilen. Sie schaffen eine direkte Verbindung zwischen Erzeuger und Verbraucher. Die Ware mag teurer sein, aber auf jeden Fall ist sie aus der Region, aus biologischem Anbau und frisch, und wenn etwas nicht in Ordnung ist, kann man wieder hingehen und dem Bauern das sagen. Ein gesunder Mix ist wichtig - einerseits Urbanisation und andererseits Natur und Landwirtschaft. Lebensmittel, Obst und Gemüse aus den Einkaufszentren sind Standardware. Daher ist es wichtig, diese Form der regionalen Erzeugung zu fördern.
Sind Flächen in Stuttgart knapp? Boomt der Bausektor?
Schuster: Stuttgart ist attraktiv und daher ziehen Menschen aus ganz Deutschland und aus der ganzen Welt hierher. Sie sind willkommen. Das Problem ist, dass wir sehr strenge Bauvorschriften haben. Man kann also nicht einfach Bäume fällen und Flächen bebauen. Das ist sehr streng geregelt. 40 Prozent unserer Flächen stehen unter besonderen Naturschutz. Wir müssen Flächen immer wieder umnutzen, was komplizierter ist, als neue Flächen zu bebauen. Gibt es zum Beispiel eine alte Fabrik, dann kaufen wir sie, überplanen sie und verkaufen sie wieder an private Investoren. So werden bereits erschlossene Flächen immer wieder neuen Nutzungen zugeführt. Es ist nicht schwer, freie Grünflächen zu bebauen, aber dann sind sie für immer verloren. Wenn man ein sehr starkes Bevölkerungswachstum hat, wie in Mumbai, muss man neue Flächen erschließen. Diese Entwicklung hat bei uns in den 50er und 60er Jahren stattgefunden. Heute haben wir 600.000 Einwohner. Wir hätten gerne mehr, wenn Sie so mögen. Dann müssten sich unserer Einstellungen aber auch ändern.
Aber wie möchten Sie mehr Einwohner unterbringen?
Schuster: Politisch halten wir es langfristig für sinnvoller, eine größere Dichte zu erreichen, dass die Menschen auf engerem Raum leben, und das Land für alle grün zu lassen. Im Augenblick ist keine weitere Bebauung vorgesehen. Es gibt jetzt aber eine Debatte darüber, wo gebaut werden soll. Wenn man unsere demografische Situation mit unserer wirtschaftlichen Lage vergleicht, dann stehen jedem Einwohner Stuttgarts im Durchschnitt 28 qm Wohnfläche zur Verfügung. Im Vergleich mit Indien oder China leben wir in sehr luxuriösen Verhältnissen. Davon müssen wir uns verabschieden, denn ich bin mir nicht sicher, dass wir uns das langfristig leisten können, dass jeder eine so große Wohnung hat. Wenn die freien Grünflächen bebaut werden, geht das zulasten der Qualität, die Flächen sind weg. Unser Maßstab muss die Qualität sein. Letztlich geht es um die Lebensqualität und die Qualität der Bildung, der Dienstleistungen und der Produkte.
Was passiert mit dem Bahnhof? Warum protestieren alle?
Schuster: Es protestieren nicht alle. Nur eine Minderheit. Das Projekt wurde auf verschiedenen parlamentarischen Ebenen beschlossen. Dann per Gesetz. Auch vor Gericht wurde darüber verhandelt. Über mehrere Jahre wurde diskutiert und geplant. Letztes Jahr war Baubeginn. Aus lokaler Sicht ist es so, dass die Leute die Veränderung scheuen. Wenn man ein Haus hat, dann braucht man kein Haus. Aber wenn man an die nächste Generation denkt, ändert man vielleicht seine Meinung. Es ist eine eigenartige Mischung von Interessen, Parteiinteressen. Die Medien spielen auch eine Rolle, nur einige Medien, nicht alle. Hier kommen große Züge an, die Gleise sind in sehr schlechtem Zustand. Alles zu sanieren ist sehr kostspielig. Und wenn wir erst einmal damit beginnen, können wir den Bahnhof mindestens zehn Jahre lang nicht benutzen. Daher hat die Bahn beschlossen, ihn nicht zu sanieren, sondern zu verlegen.
Welche Vorteile hat dieses Projekt? Wie wird die Stadt davon profitieren?
Schuster: Der große Vorteil liegt darin, dass man bauen kann und der Bahnhof gleichzeitig in Betrieb bleibt. Ein weiterer Vorteil ist, dass all die Parks, die vor vielen Jahren durch die Gleisflächen zerstört wurden, für den Bau und die Entwicklung der Stadt zur Verfügung stehen. Wir können unsere Stadt in Richtung Neckar entwickeln. Das Problem ist, dass die Menschen nicht an die nächste Generation denken. Wenn man sich sagt, meine Kinder und Enkelkinder werden davon profitieren, funktioniert es. Darum führen wir über das Thema eine komplexe Diskussion. Aber in einer Demokratie gibt es immer Opposition und verschiedene Meinungen. Das ist normal.
Was tun Sie zur Förderung der Beziehungen zwischen den Partnerstädten Mumbai und Stuttgart?
Schuster: Unsere Kommunikationsplattform ist der Wein und das funktioniert sehr gut. Wir veranstalten einmal im Jahr ein Weinfest in Mumbai. Den Leuten gefällt das sehr gut und sie kommen dahin. Wein macht Menschen sehr kommunikativ. Sie sprechen miteinander, das ist eine gute Sache. Natürlich versuchen wir auch, in den Bereichen Wirtschaft, Medien und Tourismus Kontakte zu fördern. Außerdem gibt es Projekte von politischer Seite. Es ist also immer ein guter, interessanter Mix. Auch auf kultureller Ebene hat schon viel Austausch stattgefunden. Vor 6 Jahren haben wir das indische Filmfestival – „Bollywood and Beyond“ – ins Leben gerufen, das wahrscheinlich weltweit größte seiner Art außerhalb Indiens.
veröffentlicht am 26. Mai 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.
Übersetzt von Angela Selter