Stuttgart

Stuttgart, 23.5.2011: Stuttgart, die kleine, grüne Stadt ohne Verkehr

 © Sukhada Tatke in Stuttgart © Foto: Stuttgarter Nachrichten Der Sonntag scheint als Entschuldigung für all das herzuhalten, was in dieser Stadt nicht passiert. Wenn es so ruhig ist, dass man versucht ist zu flüstern, liegt es am Sonntag. Wenn die Straßen zur Hauptverkehrszeit leer und nur wenige Menschen zu sehen sind, weiß man, dass Sonntag ist. Vielleicht hat der kälteste Tag seit sechs Wochen gerade deshalb den Sonntag abgewartet, den Tag meiner Ankunft in dieser Stadt.

Angesichts des Wechsels aus der Stadt, die niemals schläft, in eine andere, deren Sprache ich nicht spreche, dürfte meine Sorge vor der Reise berechtigt gewesen sein. Obwohl man mich gewarnt hatte, dass Stuttgart viel ruhiger (bisweilen langweiliger) sein würde als alles, was ich kenne, gibt es nichts, was mich auf die Begegnung mit der Stille in den ruhigen, menschenleeren Straßen hätte vorbereiten können.

Bereits am Flughafen bekam ich einen ersten Eindruck davon, was mich hier erwartet. Ich konnte nicht fassen, dass ich den Flughafen in seiner gesamten Länge und Breite allein dadurch überblicken konnte, dass ich mich einmal um meine Achse drehte. Hier bekam ich auch einen ersten Eindruck davon, wie die Menschen hier sind. Ohne jede Ahnung, wo ich hin musste, wurde ich bei dem Versuch, mir einen Gepäcktrolley zu besorgen, von einer freundlichen Frau angesprochen, die mir einen Euro anbot, um den Trolley aus seiner Sicherung zu lösen.

Inmitten all der Nervosität und des Rummels (wenn man es so bezeichnen kann) tauchte Anjas vertrautes Gesicht auf und versicherte mir, dass es ein lohnender Aufenthalt werden würde. Als wir vom Flughafen wegfuhren, war ich sprachlos angesichts der vielen Waldflächen und der fast leeren Bürgersteige. Der Rechtsverkehr irritierte mich etwas, da ich immer das Gefühl hatte, dass wir mit den Autos, die uns entgegenkamen, zusammenprallen würden. Allerdings sind kaum Autos auf der Straße unterwegs. Mir schien, dass die 600.000 Einwohner Stuttgarts den Sonntagmorgen gemütlich zu Hause verbrachten.

Bald erreichen wir die Hauptstätter Straße, eine „der verkehrsreichsten Straßen“, wie Anja bemerkt. Ich kann auf der Straße kaum Autos oder Menschen ausmachen und versuche nicht laut zu lachen, ohne Erfolg. „Ach ja, aber es ist Sonntag“, habe ich inzwischen zu sagen gelernt.

Am Abend, nach Döner und Bretzeln gut gesättigt und glücklich darüber, mich in Hindi mit einem afghanischen Mann unterhalten zu haben, der mir eine Prepaid-Telefonkarte verkauft hat, wird mir klar, das Stuttgart mir das Gefühl geben wird, etwas Besonderes zu sein. Schon nach einigen Tagen hier haben sich so vielen Mythen in Luft aufgelöst. Mir wird schnell bewusst, dass Stuttgart mehr ist als Mercedes und Benz, dass Deutschland viel mehr ist als seine unrühmliche Vergangenheit. Die großen Freiflächen, die Radwege und Fußgängerbereiche geben wenige Hinweise darauf, dass man es hier mit einer Industriestadt zu tun hat.

Diese kleine grüne Stadt, die in ihrer Größe und Einwohnerzahl nur einem kleinen Teil meiner Heimatstadt entspricht, hat ihren ganz eigenen Charme. Sie tut alles dafür, mir und meiner Reise ein besonderes Gefühl zu geben. Die ganze Zeit wollen Leute mir die Hand schütteln. Ich bitte um Wasser und man gibt mir Sprudel. Ich drücke einen Knopf an der Ampel und sie wird sofort grün. Während ich die Straße überquere, hält der Verkehr an - nur für mich! Wenn dies nicht der Versuch Stuttgarts ist, mir ein besonderes Gefühl zu geben, was dann?

Meistens ist es draußen kalt, doch die Wärme, mit der mir die Menschen begegnen, gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Die deutschen Worte sind schwer zu behalten und noch schwieriger auszusprechen, doch ich verständige mich durch Gestik und Lächeln. Jeden Tag sagt man mir, dass der nächste Tag wärmer, angenehmer werden würde. Und mir geht es genauso, je vertrauter ich mit der Stadt werde. Selbst wenn nur wenige Autos auf der Straße unterwegs sind, höre ich mich sagen: „Oh, heute ist aber viel Verkehr. Und dabei ist heute gar nicht Sonntag“.

Sukhada Tatke
veröffentlicht am 23. Mai 2011 in den Stuttgarter Nachrichten.

Übersetzt von Angela Selter

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