Leipzig, 6.10.2010: Die Kunst der Kartoffel

Beim Abendessen unterhielt ich mich mit drei Kollegen über ein für mich sehr spannendes Thema: Kartoffeln. Ich bin nun schon einige Zeit in Leipzig. Während dieser kurzen Spanne habe ich zusammen mehr Kartoffeln gegessen, als in meinem bisherigen Leben. Wenn ich mich nicht täusche, wird nur ein einziges Gericht in der thailändischen Küche mit Kartoffeln zubereitet, nämlich Massaman Curry. Allerdings ist es auch kein original thailändisches Essen, sondern vielmehr eine Adaption aus der indischen Küche.
Für mich ist die deutsche Sättigungsbeilage inzwischen eine Herausforderung geworden. Ich nehme mir nämlich fest vor, nur Kartoffelgerichte oder -beilagen zu essen, die ich noch nicht kenne. Bislang habe ich bereits Kartoffelpuffer, Bratkartoffel, Kartoffelklöße, Kartoffelsalat, Kartoffelsuppe und Kroketten kennengelernt. Sobald mir ein Essen mit Kartoffeln vorgesetzt wird, bewundere ich es wie ein Kunstwerk. Denn jeder Koch bereitet das gleiche Kartoffelgericht auf seine eigene Art zu. Die Zusammensetzung, die Zubereitungsart und schließlich die Dekoration, all das sind die feinen Unterschiede, die einen zum Probieren einladen.
Ich stellte in der Runde die Frage, warum es so viele unterschiedliche Kartoffelgerichte und -beilagen gibt. In Asien essen die Menschen hauptsächlich Reis. Doch haben sich etwa in Thailand nicht mehr als drei Hauptzubereitungsarten entwickelt, nämlich der normale Reis, der Klebreis und die Reissuppe. Freilich würden manche Gerichte wie der gebratene Reis oder Süßspeisen wie Klebreis in Bambus dazu zählen. Aber meiner Ansicht nach gehören sie nicht wirklich dazu, weil sie keine Hauptgerichte sind. Ein Kollege erklärte mir, dass die Deutschen früher nicht jeden Tag Fleischgerichte aßen. Meistens gab es nur Sonntag am Mittag oder Abend Fleisch, weil Sonntag ein besonderer Tag war. Hauptgericht für viele Menschen war die Kartoffel. Dass die Menschen aus dem, was sie jeden Tag essen müssen, so viele kulinarische Variationen hervorbringen, liegt seiner Ansicht nach auf der Hand.
Laut London Times, Ausgabe vom 3. Oktober 1885, kamen Kartoffeln zum ersten Mal im Jahr 1581 auf den deutschen Boden, und zwar über Sachsen. Dabei handelte es sich um Kartoffeln aus Italien. Ab 1647 wurde der Kartoffelanbau in Leipzig ernsthaft betrieben. Allerdings wurden Kartoffeln in den ersten 200 Jahren nicht als Nahrungsmittel für die Menschen angebaut, sondern als Tiernahrung. Erst im 17. Jahrhundert wurden Kartoffeln als Lebensmittel für die Menschen verwendet. 1888 wurden allein in Deutschland 23 Millionen Tonnen Kartoffeln geerntet. Die Anbauflächen erweiterten sich ständig. Der Höchstertrag lag hierzulande einst bei 33 Millionen Tonnen jährlich. Mit der kulinarischen Globalisierung nimmt der Kartoffelanbau auch ab. Gegenwärtig beträgt die Kartoffelproduktion in Deutschland zwölf Millionen Tonnen pro Jahr. Trotz dieses Rückgangs zählt Deutschland nach wie vor zu den weltweit wichtigsten Anbaugebieten. Derzeit steht das Land an Platz sieben unter den wichtigsten Kartoffelproduzenten der Welt.
Da Leipzig einer der ersten Kartoffelanbaustandorte auf dem deutschen Boden war, wäre es verwunderlich gewesen, wenn die Leipziger keine Kartoffelspezialitäten hervorgebracht hätten. Und ich hatte denn auch die Möglichkeit, eine Leipziger Kartoffelspezialität zu probieren. Die Rede ist von „Leipziger Allerlei mit Macaire- Kartoffeln“. Macaire-Kartoffeln sind ein Teig aus zerdrückten Pellkartoffeln, Mehl und bestimmten Gewürzen. Dieser Teig wird wie Frikadellen geformt und so ausgebacken, dass er nur außen knusprig wird. Beim Beißen spürt man deshalb das Knusprige außen und zugleich den weichen Teig innen. Die Kartoffelspezialität wird als Beilage zum so genannten Leipziger Allerlei gereicht, das aus gebackenen kleinen Garnelen, Pilzen, Karotten, Brokkoli, Blumenkohl und Morcheln besteht. Im Vergleich zu den bislang getesteten Kartoffelgerichten stehen Macaire- Kartoffel zweifelsohne an der allerersten Stelle auf meiner persönlichen Rankingliste der Kartoffelgerichte.
veröffentlicht am 6. Oktober 2010 in der Leipziger Volkszeitung.
Aus dem Thailändischen übersetzt von Dr. Chalit Durongphan.