Leipzig, 1.10.2010: East meets West: Leipzig 2010

„Was sind das für Schuhe hier in deiner Vitrine?“, frage ich laut und erstaunt. Mein deutscher Kollege Martin Pelzl kommt, öffnet lachend die Vitrine, holt aus den umstehenden Glassouvenirs aus aller Herren Länder die beiden uralten, aber nagelneuen Paar weißer Turnschuhe mit grüner Gummisohle heraus und präsentiert sie strahlend. „Solche Schuhe habe ich früher während der DDR-Zeit beim Basketballspielen getragen. Schau mal, wie weich die Sohle und der Schaft sind. Da war es nur eine Frage der Zeit, wann man umknickt. Es gibt sie nicht mehr im Handel. Ich habe sie mal geschenkt bekommen“, sagt er.
Ich nicke verständnisvoll. Auch 20 Jahre nach dem Ende des DDR Regimes sind gute wie schlechte Erinnerungen an diese nun vergangene Zeit bei vielen Menschen, die die DDR selbst erlebten, noch sehr lebendig …Vor wenigen Tagen gegen 18 Uhr radelte ich entlang des Parks an der Thomaskirche. Von ferne war Bachs Musik zu hören. Ich hielt an, um mir jenen 9. Oktober 1989 vorzustellen, als zehntausende Menschen in Leipzig die Friedliche Revolution einleiteten. Diese Menschen kämpften gemeinsam laut und gewaltfrei für ihre Freiheit. Ihre Demonstrationen markierten den Beginn des Mauerfalls, der schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands führte.
Zwischen 1949 und 1990 lebten Leipziger Familien im DDR-System, erfahre ich. Sie hatten nicht nur Kartoffeln, Brot und Butter zu essen, ein Dach über dem Kopf und Schulen für ihre Kinder. Alles in allem war es keineswegs ein erbärmliches Leben. Dennoch hatte der Staat kein Geld übrig, etwa für die Reparatur von Wohnungsfenstern. Im Winter drang manchmal der eiskalte Wind durch die Risse an den Fenstern in die Wohnung ein. So wärmten sich wohl die Kinder dann doch lieber in den Umarmungen ihrer Mütter als auszugehen.
Wir befinden uns jetzt im Jahr 2010. Staatliche Subventionen werden für die Sanierung oder den Abriss jener Bauten angeboten, die als Erbe der DDR-Zeit gelten. Teils auch für noch ältere. Trotzdem sind sie in vielen Straßen noch zu finden. Mir gefällt es jedes Mal aufs Neue, wenn ich ein modernes Gebäude neben einem barockem Bau sehe – auch wenn die Fassade manchmal voll von bunten Graffiti ist.
Ein anderer Kollege erzählte mir, er sei im kommunistischen System geboren und aufgewachsen und arbeite jetzt in einem demokratischen System. Menschen seiner Generation seien momentan alle im berufsfähigen Alter und befänden sich in wichtigen Positionen. Dennoch vergäßen sie die Nöte in der Vergangenheit nicht. „In den letzten 20 Jahren haben wir hart gearbeitet. Wir haben Werke wichtiger Autohersteller wie Porsche und BMW hier in Leipzig. Die Stadt hat sich zu einem weltweit wichtigen Messe- und Ausstellungsstandort entwickelt. Leipzig hat sich verändert. Marode Bauten warten darauf, abgerissen zu werden. Touristen kommen in die Stadt. In die Infrastruktur ist in der ganzen Stadt viel investiert worden. Alles wird in Zukunft bequemer und besser sein als jetzt“, sagte er.
Die etwas über 50 Jahre alte Stadtführerin Brigitte Hessel zeigt Besuchern aus aller Welt ihre Stadt schon länger als 20 Jahre. Sie sei stolz darauf, dass die Sehenswürdigkeiten in der Stadt restauriert worden sind. Was ihr jedoch nicht gefalle, sei die Tatsache, dass zahlreiche dieser Sehenswürdigkeiten immer mehr von Einkaufsläden umlagert würden, die oft die gleichen Klamotten und Schuhe verkaufen. Ich kann ihr in diesem Punkt nur zustimmen. Wenn ich schöne Gebäude und Kirchen, die die Leipziger der heutigen Welt hinterlassen haben, fotografieren möchte, muss ich oft weniger schöne Einkaufsläden mit ihren Schuhen, Warenständern und Schaufenstern mit ins Bild aufnehmen. Fast nach dem Motto: Eins kaufen, zwei bekommen! Jedes Mal beim Gespräch mit Menschen in Leipzig spüre ich etwas, was sie hier als „schwer beschreiblich“ bezeichnen. Ist das vielleicht das eigentliche Gefühl dieser Menschen der DDR-Zeit gegenüber? Oder so etwas wie ein Hass-Liebe-Verhältnis. Ebenso wie jene beiden Paare Turnschuhe in der Vitrine…
veröffentlicht am 1. Oktober 2010 in der Leipziger Volkszeitung.
Aus dem Thailändischen übersetzt von Dr. Chalit Durongphan.