Hanoi, 17.2.2011: Lernen für ein besseres Leben

Bei einem Besuch im Restaurant von KOTO in der van Mieu Straße direkt gegenüber des Literaturtempels ist das Elend der Straße scheinbar weit weg: Die Einrichtung ist modern, sauber, stilvoll, freundliche Empfangsdamen begrüßen die Gäste, als hätten sie nur auf sie gewartet, die Kellner fragen auf Englisch nach ihren Wünschen und erkundigen sich zwischendurch, ob auch alles zur vollsten Zufriedenheit ist. Vom Café im Erdgeschoss aus lassen sich die Köche beobachten, die an asiatischen und westlichen Köstlichkeiten werkeln, im Restaurant mixen die Barkeeper mit ansteckender Fröhlichkeit ihre Cocktails. Das Personal strömt Liebe und Leidenschaft aus für das, was es tut. Nichts hier verrät, dass die Kellner, Köche, Empfangsdamen trotz ihres jugendlichen Alters schon schreckliche Erlebnisse hinter sich haben: „Wir werden bei Koto mit extremen Geschichten konfrontiert: Missbrauch, Menschenhandel, Gewalt, Kriminalität, Armut. Wir erleben die Kinder, die traumatisiert sind, weil sie mit ansehen mussten, wie ihr Haus niedergebrannt ist“, erzählt Jimmy Pham. Um diesen Kindern eine neue Chance zu geben und aus der festen Überzeugung, dass jede das Recht auf eine gute Ausbildung und ein würdevolles Leben hat, gründete er KOTO.
Den Anfang nahm das Projekt 1996: Jimmy Pham, der in Australien in einem Tourismus-Unternehmen mit Indochina-Abteilung arbeitete, reiste zurück in seine alte Heimat Vietnam, um in Saigon gute Hotels zu suchen. Er begegnete einer Gruppe von Straßenkindern, die Kokosnüsse verkauften uns sehr verwahrlost aussahen. Sie wuschen sich im Abwasser und schliefen in Bäumen. Jimmy Pham war schockiert. Er gab ihnen Essen und Kleidung. Jimmy Pham zog nach Vietnam, reiste durch das Land und fand überall Kinder wie diese. „Ich wollte etwas verändern und ihnen das Versprechen für eine bessere Zukunft schenken“, erinnert er sich.
Der koreanisch-vietnamesische Jimmy Pham hat selbst eine bewegte Lebensgeschichte: In Ho-Chi-Minh-City 1972 geboren, verließ seine Familie nach dem Rückzug der Amerikaner das Land. Noch als Kleinkind lebte Jimmy in einem Lager in Singapur, kam dann nach Saudi-Arabien und schließlich Australien. „Ich war gerade zwei Jahre alt, als ich Vietnam verließ und erinnere mich nicht mehr an diese Zeit. Anfangs habe ich mich für meine Herkunft geschämt. Ich wollte Australier sein. Jetzt aber habe ich verstanden, wie würdevoll und schön die Menschen hier sind. Mittlerweile empfinde ich es als Auszeichnung, mehrere Nationen in mir zu haben.“ Jimmy Pham war es schon als Kind wichtig, sich um andere zu kümmern. „Ich habe Menschen schon immer geliebt.“ Er wuchs aber auch mit einer Mutter auf, die selbst ein „Produkt der Straße“ war: „Sie lebte in schrecklicher Armut. Natürlich war das auch ein Katalysator für mich, wenn auch nicht meine einzige Motivation. Manchmal sucht man sich sein Schicksal nicht aus, sondern wird von ihm ausgewählt.“
Jimmy Pham begriff es als sein Schicksal, den Straßenkindern in Vietnam zu helfen. Es dauerte allerdings Jahre, bis er sich überhaupt das Vertrauen derjenigen erarbeitet hatte, deren Leben er verändern wollte. 1999 eröffnete er einen Sandwichladen in der Nähe des Hauptbahnhofs. Und das ohne jegliche Erfahrung in der Gastronomie oder Psychologie. „Ich habe alles auf dem Weg gelernt“, sagt Jimmy Pham. Der Anfang allerdings war hart: „Ich hatte keine Lizenz, keine Verbindungen, kein Geld. Und dann war ich auch noch ein alleinstehender Mann, der mit Kindern arbeiten wollte – das weckte Misstrauen. Aber weil die Kinder mein Hauptansporn waren, habe ich einfach weitergemacht.“ Und das, obwohl auch der Laden anfangs mäßig lief: Die Sandwiches und Milchshakes waren schrecklich. „Ich verstand, dass es nicht nur um die Vermittlung von Fähigkeiten für einen Job ging. Am wichtigsten ist es, Vertrauen aufzubauen, Selbstbewusstsein zu vermitteln, eine Familie zu schaffen“, erklärt Jimmy Pham. Ein Jahr später zog KOTO um in ein Restaurant direkt gegenüber dem Literaturtempel. „So viele Menschen haben geholfen, das Projekt unterstützt und sich eingebracht.“Wenige später können die Trainees dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ihr Essen servieren. KOTO hat es zum ersten gemeinnützigem Unternehmen Vietnams geschafft.
Seitdem ist KOTO immer weiter gewachsen: In Hanoi sind Restaurant und Trainingscenter etabliert, in Ho-Chi-Minh-City hat im Januar 2010 ein weiteres eröffnet und Jimmy Pham kann sich vorstellen, die Idee auch über Vietnam hinaus nach Kambodscha, Brasilien, Kenia zu tragen und seine Heimat dafür wieder zu verlassen, um hier anderen die Leitung zu übergeben. „Mittlerweile konnten wir 500 Kindern helfen – alles, was ich wollte, war einem zu helfen.“
Insgesamt 50 Trainees zwischen 16 und 22 Jahren beginnen zwei Mal jährlich ihre Ausbildung. Bevor sie bei KOTO anfangen, müssen sie ein langes Auswahlverfahren von zwei bis drei Monaten durchstehen, in dem geprüft wird, ob wirklich Bedürftigkeit besteht und auch, ob die Kinder für den Job geeignet sind. „Man kann nicht jedem Kind helfen – da muss man realistisch bleiben. Aber für die, denen wir helfen, wollen wir das Beste“, sagt Pham, der es mittlerweile geschafft hat, dass sich KOTO durch große Sponsoren, private Spender und Charity-Events finanziert: 200 Dollar pro Monat und Trainee sind nötig.
Nguyen Thi Thuy ist eine von denen, die das Auswahlverfahren geschafft hat. Als ihr Vater ihre Mutter erschlagen hatte und dafür ins Gefängnis ging, musste das Mädchen mit ihrer kleinen Schwester zu ihren Großeltern ziehen. In der Provinz von Ha Nam arbeitete Thuy auf dem Feld, um den Rest ihrer Familie zu versorgen. Trotz des harten Lebens fiel es ihr anfangs schwer, für KOTO die Großeltern und die Schwester zurückzulassen. Vor allem, weil alles so fremd schien, als sie in Hanoi ankam: „Alles war so anders und so modern. Ich musste plötzlich mit Fremden reden – und das, obwohl mein Englisch so schlecht war.“ Eine Situation, die Hoang Thi Hanh, head of training, gut kennt: „Es ist eine große Herausforderung für die Neuankömmlinge“, sagt die Trainerin für den Bereich „Empfang“ bei KOTO, „Es ist wie ein Kulturschock. Keiner von ihnen hat irgendwelche Erfahrung mit Bewirtung. Die meisten können noch nicht einmal gut Vietnamesisch, weil sie Schreiben und Lesen nicht gelernt haben. Und plötzlich werden sie mit einem international anerkannten Curriculum konfrontiert.“ Hoang Thi Hanh kennt die Gefühle der Trainees aus eigener Erfahrung: Sie gehörte 2001 selbst zu ihnen. Sie wuchs in einem sehr kleinen Dorf unter vielen Brüdern und Schwestern auf, musste die Schule abbrechen und Geld verdienen – auch, um ihren kranken Vater zu versorgen. Als ihre Schwester ihr von KOTO berichtete, bewarb sie sich – weil es auf dem Land keine Zukunft für sie und zu wenig Geld für die Medikamente des Vaters gab. „KOTO hat mein Leben verändert. Und ich habe auch genug verdient, um meiner Familie zu helfen.“ Nun möchte Hoang Thi Hanh zurückgeben, was KOTO für sie getan hat, indem sie die Trainees unterrichtet. „Ich wollte immer schon Lehrerin werden. Das ist ein Traum, der wahr geworden ist.“
24 Monate umfasst die Ausbildung: Darin lernen die Trainees nicht nur Kochen, Bewirtung oder Empfang, sondern auch zum Beispiel Englisch und – in 36 verschiedenartigen Workshops – wie sie mit ihrem Geld auskommen, ihre Wut kontrollieren, angemessen kommunizieren oder was persönliche Hygiene bedeutet. Im ersten Jahr verbringen sie mehr Zeit im Training Center, im zweiten überwiegt die Praxis. Regelmäßig werden ihre Leistungen von Profis aus angesehenen Betrieben wie dem Interconti bewertet. „Man kann regelrecht mit ansehen, wie sie sich verändern“, sagt Amanda Loader, die gerade als Volunteer im Restaurant in Hanoi arbeitet. „Sie sind so enthusiastisch und versessen darauf, etwas zu lernen.“
Anfangs leben die Trainees noch zusammen, doch nach einiger Zeit ermutigt KOTO sie, eine eigene Wohnung zu mieten – um ihre Selbständigkeit zu fördern. Ein Schritt, den Nguyen Thi Thuy bereits hinter sich hat. Die 18-Jährige ist die Beste in ihrer Klasse und wird die Ausbildung in vier Monaten abschließen. „Ich lerne sehr viel – aber das finde ich nicht schlimm, weil es mir Spaß macht“, erklärt Nguyen Thi Thuy. Sie möchte gern in einem großen Hotel in Vietnam oder vielleicht sogar Australien arbeiten, um ihre Großeltern und ihre Schwester zu unterstützen, von der sie hofft, dass sie zur Universität gehen kann. Nguyen Thi Thuy hat durch KOTO mittlerweile eine viel größere Familie mit vielen Brüdern und Schwestern gewonnen. Vor allem aber weiß sie jetzt, dass sie wieder eine Zukunft hat.
veröffentlicht am 17. Februar 2011 in Tienphong Daily.