Hanoi, 13.1.2011: Respekt vor der Leistung vietnamesischer Künstler

Über 100 Veranstaltungen mit einem Gesamtbudget von 1,2 Mio. Euro hat das Goethe-Institut organisiert – und viel Geld davon in das ambitionierte Theaterprojekt gesteckt. Ein Austausch deutscher und vietnamesischer Kultur auf vielen Ebenen: Das internationale Produktionsteam arbeitet mit über 100 vietnamesischen Künstlern; das Stück wird auf Deutsch gesungen sowie Vietnamesisch gesprochen und verbindet Tanz, Gesang und Schauspiel. Eine große Herausforderung für alle Beteiligten.
Der Kontrast könnte kaum größer sein: Rote Samtsessel, aufwendig verzierte Balkone, eine golden umrahmte Bühne erinnern auch im Inneren der prächtigen Oper von Hanoi an den französischen Kolonialstil – doch der rot glühende, schlicht moderne Heizlüfter, vor dem Chefdramaturg Christoph Maier-Gehring sitzt, will so gar nicht in das Ambiente passen. Ebenso wenig wie die Schals, Mützen und Handschuhe, die die Künstler auf der Bühne über ihren prächtigen Kostüme tragen– Roben aus herrlich schimmernden Stoffen, die Ausstatter Andreas Lungenschmid eigens bei „La Hang“ schneidern ließ. Wie alle anderen in Hanoi friert auch das Team von „Der durch das Tal geht“. In der Oper ist es bitterkalt. Neun Grad bei hoher Luftfeuchtigkeit –Heizungen wie in Deutschland gibt es hier nicht. Hinter der Bühne sind sechs Heizstrahler aufgebaut: „Das ist wie ein modernes Wigwam: Alle hocken im Schneidersitz davor“, erzählt Choreograph Henning Paar. In Deutschland würde sich ein Theaterteam höchstwahrscheinlich weigern, unter diesen Bedingungen zu arbeiten – die Kälte ist gefährlich für die Stimmen der Sänger und birgt Verletzungsgefahr für die Tänzer. Hier aber gehen es die Beteiligten pragmatisch an: „Das ist die erste Oper, die ich mit Kapuze inszeniere“, sagt Regisseurin Beverly Blankenship lachend.
Sie schaut auf das Bühnengeschehen. Während von draußen noch das Hupen zu hören ist, das vom alltäglichen Verkehrschaos auf Hanois Straßen kündet, tobt drinnen ein Kampf, der keine Zeit kennt: Es geht um Parzival, ursprünglich ein Held aus der mittelalterlichen europäischen Mythologie, der in Europa vor allem wegen seiner Erlebnisse am Hof von König Artus und seiner Suche nach dem heiligen Gral (nach christlicher Sage ein Gefäß mit dem Blut Christi) bekannt ist. Tankred Dorst, bedeutender deutscher Dramatiker, hat sich für „Der durch das Tal geht“ allerdings auf seine Jugend und seine Loslösung von seiner Mutter konzentriert, die ihn vor der Welt verstecken wollte. Für Dorst, der von seiner Ehefrau Ursula Ehler unterstützt wurde, geht es um die „Menschwerdung von jemandem, der aus dem Wald kommt. Alles, was geschieht, geschieht für ihn zum ersten Mal. Er muss erst lernen, auf einem Stuhl zu sitzen und nicht auf einem Tisch, nicht zu schreien sondern leise zu sprechen – und auch, welche sozialen Regeln gelten. Das fand ich theatralisch sehr wichtig: Parzival weiß nichts über Leben und Tod, er ist ein grausamer Einzelgänger.“ Die Frage, ob Parzival Täter oder Opfer ist, berührt den Kern des Stücks.
Dass es in Vietnam uraufgeführt wird, freut Tankred Dorst – beim Verfassen des Librettos aber hat es ihn nicht beeinflusst. „ Für ein spezielles Publikum zu schreiben – das habe ich noch nie gemacht. Wenn ein Autor gut sein will, muss er seine eigene Welt herstellen. Natürlich bin ich dabei auch ein Kind meines Zeitalters, ist die Gegenwart Teil meiner Geschichte. Parzival ist für mich eine heutige Geschichte über einen Menschen im Jetzt, der sich die alte Menschheitsfrage stellt: Wer bin ich?“
Auf der Bühne ist die Figur Parzival aufgesplittet in den Tänzer Pham Tri Thanh und den aus dem Fernsehen bekannten Schauspieler Bui Nhu Lai. Intensiv durch lebt Bui Nhu Lai den Kampf von Parzival, das Gesicht verzerrt, der Gang schwer vor innerer Last, während Pham Tri Thanh mit seinem Körper dem Seelenzustand des Helden ein greifbares Bild gibt.
Dass die Künstler so weit gekommen sind, hat einen langen Probenprozess gekostet, der im November 2010 begann – und für alle Beteiligten eine große Herausforderung war. „Mit europäischen Verhältnissen kam man das nicht vergleichen“, sagt Choreograph Henning Paar über die Bedingungen. Während die Hochkultur in Deutschland mit viel Geld von Seiten des Staates unterstützt wird, können die hohen Kosten für Produktionen in Hanoi nur unter Beteiligung großer Sponsoren gestemmt werden. Denn das Opernhaus ist nur ein Gehäuse ohne festes Team – anders als in Deutschland müssen für jede Produktion nicht nur die Kreativen, sondern auch Equipment und Techniker besorgt werden. Der Orchestergraben ist zu klein für die über 50 Musiker, die nun hinter einem durchscheinenden Vorhang hinten auf der Bühne spielen – mit der Konsequenz, dass der musikalische Leiter und Komponist Pierre Oser die Darsteller nur noch per Monitor sehen kann und umgekehrt.
„Das ist eine Erfahrung, die von allen viel Flexibilität erfordert“, sagt Dr. Almuth Meyer-Zollitsch, Leiterin des Goethe-Instituts Vietnam. Eine erste Barriere baut natürlich die Sprache auf: Die Sänger hatten die Mammutaufgabe, ihre Texte auf Deutsch auswendig zu lernen – und auch die Kommunikation im Team musste ständig übersetzt werden. Vor allem aber sind die Theater- und Musiktradition sowie die künstlerische Ausbildung grundsätzlich anders: Im Kontrast zu Europa, sind die vietnamesischen Orchestermusiker fokussiert auf ihre Einzelleistung – so dass Pierre Oser den für eine solche Aufführung entscheidenden Zusammenklang erst einüben musste. Und während es auf europäischen Bühnen üblich ist, Gesang und Bewegung zu kombinieren, war diese Anforderung für Chor und Gesangssolisten neu. „Was die Sänger hier leisten müssen, ist eine Menge“, sagt Pierre Oser beeindruckt. Für Gesangscoach Silvia Mödden gab es viel Arbeit: Ursprünglich sollte sie nur die schwierige deutsche Aussprache mit den Künstlern trainieren – hat dann aber auch das Halten der Töne und das Finden des richtigen Einsatzes mit ihnen geprobt.
Die Erklärung für die unterschiedliche Qualität liegt auf der Hand: Anders, als in Europa, wo sich ein Sänger in der Regel ganz auf das Training seiner Stimme und auf das Aufbauen des Repertoires konzentrieren kann, muss ein Orchestermusiker in Vietnam mit einem Grundgehalt von knapp 170 Dollar monatlich noch viele weitere Nebenjobs annehmen – so dass weniger Zeit für die Kunst bleibt. Dass das Projekt des Goethe-Instituts für nachhaltige Qualifizierung sorgt, hat Almuth Meyer-Zollitsch auch davon überzeugt, die hohen Kosten in Kauf zu nehmen. „Es ist gut, dass wir das machen, weil ich weiß: Es bleibt etwas, dass den Künstlern hilft.“ Umgekehrt hat die Arbeit das internationale Produktionsteam ein „bisschen Demut“ gelehrt, sagt Regisseurin Beverly Blankenship. „Wir stellen uns selbst schon die Frage, ob es immer so perfekt sein muss“, erklärt Chefdramaturg Christoph Maier-Gehring. Der musikalische Leiter Pierre Oser bewundert das Talent der Vietnamesen zur Improvisation – und auch ihre Unvoreingenommenheit, mit der sie seine Komposition angegangen sind, die sehr unterschiedliche musikalische Stile und Ausdrucksformen nutzt. Die Qualität und Disziplin der Tänzer hat auch Choreograph Henning Paar beeindruckt, der sofort einige der Mitwirkenden engagieren würde. Beverly Blankenship, die in Vietnam eine „zweite Heimat“ fand, hat die Künstler ins Herz geschlossen. „Sie sind sehr mutig beim Arbeiten und versuchen, es immer irgendwie zu schaffen. Sie verändern uns und wir verändern sie.“
Nun, kurz vor der Premiere sind alle Beteiligten neugierig auf das Ergebnis und die Reaktionen: „Wir sind gespannt und wären beglückt, wenn es auch in einem anderen Kulturkreis funktioniert“, sagt Co-Autorin Ursula Ehler. Beverly Blankenship, die anfangs noch skeptisch war, ob die Geschichte des jungen Parzival angesichts der so anderen Kultur wirklich in das Land passen würde, ist mittlerweile überzeugt davon. „Nachdem wir selbst den Verkehr hier überlebt haben, denke ich, dass es unbedingt so ist. Unser höchstes Gut ist das Miteinander.“
Termine: „Der durch das Tal geht“, 14.-16. Januar 2011, 20 Uhr, Opernhaus Hanoi, Eintritt frei
veröffentlicht am 13. Januar 2011 in Tienphong Daily.