Hanoi, 11.1.2011: Auf dem Nachtmarkt

Das Leben in Vietnam findet auf der Straße statt – so jedenfalls mein Eindruck nach den ersten Tagen in Hanoi. So habe ich gestern einige Kontraste erlebt: Zunächst hat mich Nguyen Viet Hung, mein Kollege von der Tienphong Daily, zum Wasserpuppentheater in der Nähe von Ho Hoan Kiem mitgenommen. Das wollte ich unbedingt sehen, da mein Reiseführer empfahl: „Man darf Hanoi nicht verlassen, bevor man nicht das traditionelle Wasserpuppentheater besucht hat.” Zum Zielpublikum scheinen aber in erster Linie die Touristen zu gehören – denn ich sah nur wenige Vietnamesen im Publikum und Hung sagte mir, dass auch er selbst, obwohl er schon seit rund 20 Jahren hier lebt, noch nie hier war. Die Veranstaltung wurde sogar größtenteils auf Englisch moderiert, nicht auf Vietnamesisch. Und doch hat mir dieses aufwändige Theater mit seiner traditionellen Musik und den alten vietnamesischen Geschichten, dessen Form schon 1000 Jahre alt ist und von Reisbauern entwickelt wurde, einen Einblick in die reiche Kultur, Geschichte und Traditionen des Landes gegeben.
Es dürfte keinen größeren Kontrast zu diesem Erlebnis geben als den Nachtmarkt im Bereich Dong Xuan. Dies schien mir für das moderne Vietnam zu stehen: Ich hatte den Eindruck, dass alle jungen Vietnamesen, die in Hanoi leben, hier über die Straße bummelten. Die Atmosphäre war wunderbar: die dunkle Nacht, im Kontrast dazu die hell erleuchteten Marktstände, der Geruch von Süßkartoffeln und heißen Maiskolben, und dann die ganzen Menschen, die vergnügt nach günstigen Kaufangeboten Ausschau hielten und es genossen, gemeinsam Zeit zu verbringen. Sie gingen Schulter an Schulter oder Hand in Hand, guckten, redeten und machten dann und wann einem der Mopeds Platz, die hier ebenfalls unterwegs sind, obwohl es hier so eng ist, dass sie nicht schneller fahren als die anderen laufen können. Für mein Empfinden war das hier ein gesellschaftliches Ereignis und nicht nur ein Einkaufsbummel.
Wie Hung mir erklärte, gehen vor allem junge Vietnamesen sehr gerne auf Schnäppchenjagd, wobei Quantität wichtiger ist als Qualität. Ich als Europäerin wunderte mich immerfort über das riesige Warensortiment. „Auf dem Nachtmarkt gibt es alles zu kaufen”, erklärte Hung mir – meiner Meinung nach sogar alles plus X. Pullover, Decken, Spielzeug, Handyzubehör, Sonnenbrillen, Schuhe … Erst traute ich mich gar nicht, nach Preisen zu fragen, da ich von dem Warenangebot und dem Getümmel ganz überwältigt war. Nur gucken, das schien mir genug. Aber dann fragte ich mich: „Dieses niedliche Teeservice, ob ich das wohl heile nach Deutschland bekomme? Oh, das ist aber ein schönes Shirt … und was ist mit diesen Schuhen …?”
Schließlich fiel mein Blick auf einen Marktstand, an dem es Sonnenbrillen zu kaufen gab. Nachdem ich eine Weile geguckt hatte, was die Verkäuferin dazu veranlasste, den Preis noch weiter zu senken, wählte ich zwei aktuelle Modelle für mich und meinen Mann aus – ein schönes Mitbringsel. Dann waren die Dämme gebrochen und ich kaufte mir noch einen Trainingsanzug. Aber auf einmal, als ich gerade richtig in Einkaufslaune war, begannen die Verkäufer, ihre Sachen zusammenzupacken und ihre Lädchen zu schließen. Elf Uhr, Markt zu Ende.
Zur späten Stunde hielt meine Rückfahrt zum Hotel einen weiteren Kontrast für mich bereit: plötzlich lernte ich ein ganz anderes Hanoi kennen – mit leeren Straßen und in absoluter Stille.
veröffentlicht am 11. Januar 2011 in Tienphong Daily.