Nairobi, 20.11.09: Die Stadt der Slums

Sie hat eines der letzten Abenteuer der Menschheit entdeckt: „Autofahren in Nairobi.“ Die neue deutsche Botschafterin Margit Hellwig-Boette reibt sich nahezu die Hände vor waghalsiger Vorfreude. „Gerade habe ich mir ein Auto gekauft, einen Toyota Prado in beige metallic, sieht super aus, muss nur noch ein schwarzer Kuhfänger dran.“ Das erzählt sie aber im dezenten Botschaftswagen, den ihr Fahrer Samuel ruhig und gelassen durch das Chaos fährt, das in Nairobis Straßen herrscht. Verkehrsregeln? Ampeln? Beachten die wenigsten Kenianer.
Margit Hellwig-Boette nimmt es als Herausforderung. „Ich habe am Wochenende schon geübt und mit Samuel den Platz getauscht.“ Der Chauffeur schmunzelt vorn im Wagen diskret vor sich hin. „Aufpassen muss ich aber schon“, wendet die Diplomatin ein, „ich will ja kein Kidnapping-Opfer werden.“ Mutig ist sie, neugierig, aber nicht leichtsinnig. In Conakry, Guinea, wo sie in den 90ern stellvertretende Leiterin der Deutschen Botschaft war, musste sie auch schon mal vor brennenden Straßensperren kehrt machen.
Die neue Botschafterin ist für Kenia, Somalia und die Seychellen zuständig. Wobei sie aufgrund der Sicherheitslage zurzeit nicht nach Somalia reist. Ihr Arbeitstag beginnt mit E Mails und Post. Anfragen und Einladungen kommen dabei von Regierungsvertretern bis hin zu kleinen Stiftungen. Auch Unternehmen oder Geschäftsleute wenden sich an die Botschaft, wenn sie Fragen oder Probleme haben. Die meisten Spontananfragen kämen aber von Touristen, die sich etwa Sorgen wegen der Sicherheit machten.
„Im Moment bin ich aber noch mit Antrittsbesuchen beschäftigt.“ Und sie fährt über Land, um die Menschen und ihre Themen kennenzulernen, damit sie besser einschätzen kann, was Politiker ihr erzählen.
Die 51-Jährige spricht ruhig, klar, überlegt. Da sitzt ein Profi. Der andere Profi, Fahrer Samuel, steuert den Wagen zum nairobischen Lieblingsplatz seiner Chefin. „Eigentlich habe ich drei, aber das ist mein Lieblingslieblingsplatz.“ Der ist bunt, duftet und löscht Durst: das River Garden Centre and Café im Stadtteil Rosslyn. Weitab von der Hektik der Stadt ist dies ein wahrhaft kontemplativer Ort. Auch wenn der River längst ausgetrocknet ist.
Die Botschafterin ist in Deutschland aufgewachsen. „Das Bemerkenswerteste an meiner Schulzeit war, dass sie in Kassel stattfand.“ Die Stadt der Documenta, eine der bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunstweltweit; seit 1972 hat Margit Hellwig keine verpasst. „Durch die Documenta ist der Wunsch entstanden, etwas Internationales zu machen.“ Es zieht sie einfach in die Ferne. „Aus Neugier, ich will immer wissen, wie es da aussieht.“
Erst mal studiert sie aber Philosophie, Geschichte und Romanistik fürs Lehramt an Gymnasien. Sie machte ihr Diplom am Europa- Kolleg in Bruegge, aber nach dem Studium gibt es keine Stelle als Lehrerin. „Das Schlimmste in meinem Leben bisher waren vier Monate Arbeitslosigkeit.“ Also geht sie es an, schreibt eine Liste für die Zukunft. „Ganz oben stand dann doch das Auswärtige Amt, ganz unten Taxifahren.“ Das Goethe-Institut sagt ihr ab, der Deutsche Akademische Austauschdienst sagt ihr zu, „dann kam auch noch eine Zusage vom Auswärtigen Amt, und ich nahm an“. So kommt es, dass sie heute in Nairobi Mangosaft trinkt. Zugegeben, das ist etwas verkürzt, aber die Fahrt geht weiter, zum zweiten Lieblingsplatz.
„Oder sollen wir Samuel fragen, ob wir mal die andere Seite Nairobis sehen können?“ Nairobi hat vermutlich um die vier Millionen Einwohner, Tendenz steigend; nahezu 90 Prozent von ihnen leben in rund 200 Slums. Das ist eigentlich Nairobi. Eine Viertelstunde geht es nun zu Fuß durch einen Slum in direkter Nachbarschaft zur Botschaft. Es ist wie ein Riss im Nachmittag. Kein Grün, keine Ruhe. Obwohl der Mensch ganz still wird. Unebene, schmale Pfade, keinen Meter breit, bergauf, bergab, keine Türen, Tücher nur vor kleinen, dunklen Behausungen. Vor manchen liegen Sandsäcke. Wenn es regnet, strömt das Wasser in die Unterkünfte. Kinder sitzen ruhig auf dem Boden oder laufen herum und schauen die Besucher an. Samuel streicht einem kleinen Jungen über den Kopf. Geht weiter. Die Botschafterin grüßt, ist freundlich, aber zurückhaltend. Sie kennt dieses Elend. „Glauben Sie, in den Lagern der Roma und Sinti in Osteuropa sieht es anders aus?“ Wie hält man das aus, selbst im Toyota Prada unterwegs, bald mit Kuhfänger, und andere haben nicht einmal ein Klo? „Sie müssen es akzeptieren, Sie können alleine die Welt nicht ändern, Sie können nicht alle aus ihrem Elend holen. Aber Sie können helfen, und das tun wir hier auch.“ „Fahren wir zum Nationalmuseum, Samuel.“ Der kleinere Teil Nairobis hat uns wieder, ein stolzer Teil allerdings. Das Nationalmuseum ist quasi das Haus, in dem die Wiege der Menschheit dokumentiert ist.
Aber Margit Hellwig hat eher ein Projekt im Sinn, als einen Ort. Sie ist eben auch Profi und wirbt für die Taten der Botschaft. In diesem Fall dafür, dass aus Mitteln des Programms „Kulturerhalt“ das „casting building“ des Museums mitfinanziert wird. „Hier werden Kopien von Lucy und den anderen Funden gemacht, für Schulen zum Beispiel.“
Inzwischen ist es dunkel geworden, und nur ein Mangosaft macht nicht satt. Samuel steuert Kengele’s Lavington Green an. „Und da wird afrikanisch gegessen.“ Der (dritte) Lieblingsplatz der Botschafterin in Nairobi, am Brunnen im Hof des Restaurants, ist besetzt. Macht nichts. Das Ugali sukuma wiki ist dennoch ein Ereignis. Samuel und die Diplomatin teilen vom Maisbrei, dem Ugali, kleine Teile ab, formen eine Kugel mit Mulde und fügen elegant grünkohlähnliches Gemüse und Rindfleisch mit Soße hinein und das ganze zum Mund. Dazu ein Tusker für die Dame, nicht zu kalte Coke für den Fahrer. Der die beiden bestaunende Mzungu (Europäer) würde sich eher eine unfallfreie Autofahrt durch Nairobi zutrauen, als so souverän mit der Hand zu essen, ohne zu kleckern.
Suaheli des Tages: Heshima heißt Respekt.
veröffentlicht am 20. November 2009 in der Frankfurter Rundschau.