Ljubljana

Ljubljana, 18.3.2013: Hartz IV – Medizin oder Gift für den „kranken Mann“ Europas

 © Björn Láczay / flickr
Eine Demonstration gegen Hartz-IV in Berlin (Foto: Björn Láczay)

Die „Agenda 2010“, die der damalige Regierungschef Gerhard Schröder vor genau zehn Jahren im Bundestag vorstellte, hat Deutschland gespalten. Für die einen sind sie der Inbegriff der sozialen Unausgewogenheit, für die anderen die Grundlage des deutschen „Jobwunders“.

Es waren über 200.000 Menschen in rund 200 Städten, die auf dem Höhepunkt der Demonstrationswelle gegen die Hartz IV-Gesetze 2003/2004 auf die Straße gingen. Die Gesetze galten in weiten Kreisen der Bevölkerung als unsozial, ungerecht und handwerklich schlecht gemacht. Der Hauptkritikpunkt: Egal, wie lange jemand schon in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat: Wenn er seinen Job verliert, ist er nach einem Jahr auf Hartz IV-Niveau. 382 Euro plus Miete und Heizung.

Aber nicht nur das. Die Gesetze haben auch Absurditäten hervorgebracht. Als Thomas H. seinen Job verlor, war er nach einem Jahr praktisch gezwungen, bei seiner neuen Freundin auszuziehen. Der 50-Jährige, der jahrelang in einer Kleindruckerei gearbeitet hatte, fühlte sich moralisch dazu verpflichtet, denn Hartz IV hatte seine Freundin und ihn zu einer „Bedarfsgemeinschaft“ gemacht, und in einer solchen müssen Partner auch füreinander einstehen, wenn sie nicht verheiratet sind. Im Fall von Thomas H. bedeutete das, dass er keinen Cent vom Staat bekommen hätte, solange seine Freundin, die drei Kinder hat, noch über Ersparnisse verfügte. Thomas H. hätte letztlich auf Kosten von Kindern leben müssen, die nicht seine eigenen waren. Also zog er aus und kostete den Staat fortan nicht nur Hartz IV, sondern auch Wohngeld.

Die Frage, wann aus einer Frau und einem Mann eine „Bedarfsgemeinschaft“ wird, führt seither immer wieder zu Diskussionen darüber, in wieweit der Staat in den Schlafzimmern seiner Bürger herumschnüffeln darf. In der Regel werden diese Streits vor Gericht geklärt, genau wie viele andere „Hartz-Streitpunkte“ auch. Mit der Folge, dass die Sozialgerichte in Deutschland wegen der hohen Anzahl von Klagen ihr Personal aufstocken mussten; in Berlin beispielsweise ist die Zahl der Richter verdoppelt worden.

Trotzdem gilt die Reform heute in vielen Ländern als Schlüssel für die Bewältigung der wirtschaftlichen Krise, auch der frühere französische Premierminister Nicolas Sarkozy hielt sie für vorbildlich. Warum? In Deutschland, das 2003 als „kranker Mann Europas“ beschrieben wurde, ist die Zahl der Arbeitslosen von 4,86 auf 2,85 Millionen gesunken. Doch wie viel Hartz steckt im deutschen Jobwunder? Zehn Jahre nach dem Beginn von Gerhard Schroeders Agenda 2010 gibt es ganze Regale voll von Studien über die Auswirkungen dieser Reformen. Die einen glauben, dass sie eine vielleicht bittere, aber notwendige Medizin für den „kranken Mann“ waren, die anderen sprechen von „Gift“. Die Zahl der Arbeitslosen mag gesunken sein, aber die Zahl der prekären Beschäftigungen ist gestiegen. Die Zeitarbeit wurde massiv ausgeweitet, nach Angaben der Zeitung Handelsblatt hat sich der Markt für Zeitarbeit in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wirft den Unternehmen vor, Zeitarbeit zur bloßen Kostensenkung zu missbrauchen.

Sicher ist jedenfalls eins: Der Nachname von Peter Hartz, des früheren Vorstandmitglieds von VW, der als Berater von Gerhard Schroeder den Arbeitsmarktreformen den Namen gegeben hat, ist in Deutschland zu einem Symbol für sozialen Abstieg geworden.

Von Kathrin Keller-Guglielmi
Veröffentlicht am 18. März 2013 in der slowenischen Tageszeitung „Dnevnik“
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