Ljubljana

Ljubljana, 9.3.2013: Gut bürgerlich und trotzdem grün

 © Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen)
Claudia Roth, Renate Künast und Jürgen Trittin (Copyright: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen)

Vor 30 Jahren sind die Grünen erstmals in den Bundestag eingezogen. Damals waren sie der Bürgerschreck schlechthin, heute ist ein 64-Jähriger, der im Kirchenchor singt, einer ihrer prominentesten Vertreter – der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Ein Rückblick.

Diese Falten, die immer mehr werden und sich immer tiefer in die Haut eingraben. Auch Claudia Roth und Jürgen Trittin, beide Mitte 50, bleiben sie nicht erspart. Die Führungsfiguren der Grünen, die vor 30 Jahren angetreten sind, um das angegraute Establishment aufzumischen, gehen inzwischen selbst der Rente entgegen.

Damals, im März 1983, als sie zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl antraten und mit 5,6 Prozent der Stimmen den Sprung in den Bundestag schafften, waren sie der Inbegriff des jugendlichen Aufbegehrens gegen die etablierten Strukturen. Die Grünen provozierten und brachen mit gesellschaftlichen Tabus. Sie kamen in Turnschuhen und ohne jeden Respekt vor Konventionen und älteren Herrschaften. Legendär der Auftritt Joschka Fischers in der Flick-Spenden-Affäre. „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, sagte er zu dem damaligen Parlamentspräsidenten Richard Stücklen. Der Satz sorgte für einen Aufschrei der Empörung und schrieb Geschichte. Knapp 30 Jahre später, im März vergangenen Jahres, hätte der gleiche Mann, der inzwischen feinen Zwirn statt Jeans trägt, in der Schweiz eine Rede halten sollen, sagte den Auftritt jedoch ab, weil aus der linksextremen Szene Tomaten und Eier drohten.

Joschka Fischers Weg vom Straßenkämpfer über den Turnschuhminister bis zum elegant gekleideten Berater in der Energiewirtschaft ist nur bis zu einem bestimmten Punkt symptomatisch für die Entwicklung der Partei. Der bekannteste und profilierteste Repräsentant, den die Grünen je hervorgebracht haben, hatte zu seiner Partei immer ein schwieriges Verhältnis. Sie brauchten sich gegenseitig, Joschka und die Grünen, wirklich geliebt haben sie sich nie. Heute sind es Leute wie Winfried Kretschmann, Ministerpräsident in Baden-Württemberg, oder Katrin Goering-Eckhardt, eine der beiden Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl im Herbst, die das Gesicht der Partei prägen. Sie sind grün und bekennend bürgerlich in einem.

Kretschmann ist wie Fischer ein Grüner der ersten Stunde, die beiden sind einen Teil ihres Weges gemeinsam gegangen. Als Fischer 1985 im Bundesland Hessen zum ersten grünen Minister gewählt wurde, wurde Kretschmann sein Grundsatzreferent. Auch er war einmal wild, auch er ist ein Kind der 68er-Bewegung, doch im Gegensatz zu Fischer hat Kretschmann, als er Joints und Fundamentalopposition ablegte, nicht gleich zu Armani-Anzügen gegriffen. Kretschmann ist Mitglied im Schützenverein, singt im katholischen Kirchenchor und lebt noch immer in erster Ehe. Kretschmann ist niemand, der polarisiert.

Genau wie Katrin Goering-Eckhardt, die Frau, die aus der ersten Urwahl der Spitzenkandidaten im vergangenen Jahr als Überraschungssiegerin hervorging. Nicht die Bundestags-Fraktionsvorsitzende Renate Künast, die für ihre freche Klappe bekannt ist, wurde gewählt, und auch nicht die schrille Claudia Roth, eine der beiden Bundesvorsitzenden. Die beiden Favoritinnen mussten einer Frau den Vortritt lassen, die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland ist und als zurückhaltend und unauffällig gilt.

Nach 30 Jahren parlamentarischer Arbeit haben die Grünen ihren Bürgerschreck-Charakter also komplett verloren. In ihren Argumenten tauchen Vokabeln wie Anstand und Moral auf, ohne dass irgendjemand zusammenzuckt. Aber nicht nur die Grünen haben sich verändert, sondern auch die Gesellschaft. Die Anti-Atomkraft-Spinner haben zuerst die Gesellschaft, und dann auch die CDU und die Regierung erobert, was 2011 zur Energiewende in Deutschland führte. Die Frauenquote – ein anderes Lieblingsthema der Grünen, wird inzwischen auch von Leuten aus der CDU gefordert – prominenteste Vertreterin ist Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Während die Grünen immer bürgerlicher wurden, wurde das Bürgertum immer grüner. Ist damit jetzt der Zeitpunkt für Schwarz-Grün auf Bundesebene gekommen?

Rein rechnerisch ist im Moment keine andere Mehrheit vorstellbar. Doch die führenden Politiker beider Parteien schweigen sich über solche Gedankenspiele lieber aus. Niemand will seine Stammwähler ohne Not erschrecken. Aber vielleicht ist die Öffnung dieser Option genauso unvermeidlich wie die Falten im Gesicht von Claudia Roth und Jürgen Trittin.

Von Kathrin Keller-Guglielmi
Veröffentlicht am 9. März 2013 in der slowenischen Tageszeitung „Dnevnik“
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