Berlin

Berlin, 14.2.2013: Interessante Wände

 © Undine Adamaite
Ein leuchtendes Beispiel für die sinnvolle Nutzung von Industrieerbe – der Hamburger Bahnhof (Foto: Undīne Adamaite)

Eine XXL-Dosis Ausstellungen in Berlin ist eine gute Wahl zu einer Zeit, wenn die Parks noch nicht grünen und man auf der Flucht vor dem Risiko nasser Füße in Innenräumen Zuflucht suchen möchte.

Wegen der großartigen Ausstellungen wünscht man sich, Berlin wäre irgendwo hinter Daugavpils oder Liepaja, ungefähr 250 Kilometer entfernt von Riga. Ich empfehle drei lohnenswerte Ziele: Ausstellungen, die noch bis März und April zu sehen sind.

Eine Amerikanerin vor Stalins Füßen

„Ich möchte dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wird“, sagte die legendäre amerikanische Fotojournalistin Margaret Bourke-White (1904–1971), deren Name ein mehrfaches „erste“ schmückt. Erste ausländische Fotografin (als Fotograf überhaupt, nicht nur als Frau), der man es erlaubte, sowjetische Industrieanlagen zu fotografieren. Die einzige westliche Journalistin in Russland während des Zweiten Weltkrieges. Am 19. Juli 1941 hat Bourke-White vom Dach der amerikanischen Botschaft die Bombardierung des Kremls fotografiert. Sie war die erste Fotografin, die Titelfotos für das Life- Magazin aufnahm und die erste Frau, der erlaubt wurde, in der Kriegszone zu fotografieren. Nach eigenen Worten hat sie „die Tragödien, das Massenelend, den Triumph und das Leiden der Menschheit“ im 20. Jahrhundert verewigt. Heute würden wir Bourke-White zweifellos eine Hotspot-Fotojournalistin nennen. Nicht umsonst wird sie zu den zehn bedeutendsten amerikanischen Frauen gezählt. .

Die umfangreiche Retrospektive im Martin-Gropius-Bau zeigt eine talentierte Fotoreporterin, die nicht nur dabei war, als „Geschichte geschrieben“ wurde, sondern schon einen Augenblick davor, wodurch sie diese Geschichte in großem Maße selbst gestaltete. Weltberühmt ist ihre Fotoreihe, die 1945 entstand, als Bourke-White mit der dritten US-Armee unter General George Patton den Rhein überquerte und Zeugin war, als Pattons Truppen das Konzentrationslager Buchenwald betraten. Ausgemergelte Menschen schauen mit wahnsinnigem Blick durch den Zaun, Leichenhaufen im Hof und Einheimische, die ihre Augen abwenden. „Ich fotografierte gestapelte nackte, leblose Leiber, in den Verbrennungsöfen qualmten menschliche Skelette, und viele der Überlebenden glichen lebendigen Skeletten, die nicht mehr lange zu leben hatten. Beim Fotografieren fühlte ich mich ein wenig besser, denn die Kamera bildete eine Barriere zwischen mir und dem um mich herum herrschenden Grauen“, erinnert sich Bourke-White.

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Die lebenden Toten von Buchenwald, 16. April 1945 (Copyright: Time & Life/Getty Images)

Zeitschriftenredaktionen schickten die Fotografin auf monatelange Dienstreisen, weil sie Gespür für Geschichten hatte und interessante Reportagen brachte. Ihre Reportagen hat Bourke-White in Fortune, Vanity Fair, The New York Times veröffentlicht, vor allem aber ist sie durch ihre kreative Zusammenarbeit mit dem Life-Magazin bekannt. Die in der Zeitschrift veröffentlichte Reportage aus der Tschechoslowakei (1939) zeigt eine Marktfrau mit zum Hitlergruß erhobenem Arm. In der nächsten Aufnahme hängt von der im selben Winkel erhobenen Hand schon eine Wurst herab.

In der Ausstellung sind unikale historische Aufnahmen zu sehen: die von der Frau eines Nazis ermordeten Kinder, Porträts von Stalins Mutter und Tante, die im Dorf Didi Lilo entstanden, der ungarische Graf Lajos Szechenyi mit Familie im Gästezimmer 1938; Studenten des Etoncolleges 1940, blasse, dünne Intellektuelle in weißen Hemden mit unbeholfen an die Hüften gedrückten Gewehren, der sich rasierende Sergej Eisenstein auf der Dachterrasse der New Yorker Wohnung der Fotografin während der Dreharbeiten zum Film Que Viva Mexico. 1948 fotografierte M. Bourke-White Gandhi einige Stunden vor den tödlichen Schüssen auf ihn und mehr und mehr.

 © Time & Life/Getty Images
Porträt von Stalins Mutter Ekaterina Dzhugashvili (Copyright: Time & Life/Getty Images)
Seit dem Alter von 17 Jahren, als sich die Studentin der Naturwissenschaften M. Bourke-White für die Fotografie begeisterte, war ihre Leidenschaft die Industriefotografie und Architektur. Die Ausstellung gibt einen ausführlichen Einblick auch in diesen Abschnitt ihres Schaffens.

„Er stand sehr steif und aufrecht in der Mitte des Teppichs. Sein Gesicht war grau, seine Haltung breitschultrig. Er stand so ruhig, als wäre er aus Granit gehauen. Ich bat ihn sich hinzusetzen, in der Hoffnung, dass er sich etwas entspannen würde. Nichts in seiner Miene deutete darauf hin, dass er vorhätte, mir zu gehorchen,” erinnert sich Margaret Bourke-White an die Aufnahmen von Stalin. Die steinerne Gestalt zum Leben zu erwecken gelang durch einen Zufall. Der Fotografin fiel etwas aus der Tasche, das auf dem Boden entlang kullerte. In dem Augenblick, als Margaret mit Stalins Adjutanten den Boden entlang krabbelte, blitze in den Augen Stalins etwas wie ein Lächeln auf. „Bestimmt sah er nicht oft eine Amerikanerin, die sich vor ihm zu Füßen warf”, bemerkt ironisch die Fotografin, der es gelang auf dem Porträt den unerwarteten Anflug eines „Lächelns” von Stalin einzufangen.

Wo, wann: Martin-Gropius-Bau. Margaret Bourke-White. Photographs 1930 – 1945. Bis 14. April. U-Bahn-Haltestelle Potsdamer Platz. www.berlinerfestspiele.de

Trophäen der Kindheit und ein Alarmknopf

Ein alter Berliner Bahnhof, der zu Ausstellungsräumen für zeitgenössische Kunst umfunktioniert wurde, ist das ideale Ziel für Familien mit wissbegierigen Kindern. Vor dem Naturkundemuseum kann man sich für ein paar Stunden trennen: der Teil, der sich nach Kunst sehnt, kann sich weiter in die Ausstellungssäle begeben, die Anderen im Naturkundemuseum bleiben und sich an den riesigen fliegenden Brachiosaurus, Dicraceosaurus, Allosaurus und Dysalotosaurus erfreuen.

Thema der Ausstellung: Kinderkreuzzug des deutschen Künstlers Martin Honert (geb. 1953) ist die Kindheit, genauer gesagt, Kindheitserinnerungen, die rekonstruiert in Form von dreidimensionalen Objekten, Installationen, ausgestellt sind. Die Kindheitserinnerungen sind für den Künstler ein nicht enden wollender Brunnen, aus dem er schöpft. Die Installationen von Honert faszinieren, denn man findet hier nicht die traditionellen Töne. Er kommt ohne nostalgisches Sentiment aus und auch der Druck von Kindheitstraumata ist nicht spürbar. Honerts Glanzlichter der Kindheit sind gleichsam in dünner Luft „aufgehängt”, ohne Kontext, Assoziationen und Wertungen. Es scheint, als erforsche der Künstler die Natur des Gedächtnisses selbst und er sei überrascht, dass in den Erinnerungen eines 1953 geborenen Mannes die ersten Kindheitseindrücke immer noch so deutlich und unverblasst weiterleben.

 © David Becker
Ein Szenisches Modell des Fliegenden Klassenzimmers, 1995 (Foto: David von Becker/VG Bild-Kunst)

Baum, Vogel, Lagerfeuer, Trafo-Häuschen, Schwimmabzeichen-Anstecker, Priester, das vom Licht des Fernsehers beschiene Bett des Vaters, die Geschichtsstunde, in der die Tafel geöffnet wird und historische Bilder lebendig werden. Alle Objekte sind hyperbolisch groß. Besonders scharfsinnig ist der Mathematiklehrer. Ein Mann im Anzug. Traurig und hässlich. Vielleicht sogar nicht richtig hässlich, einfach so total erwachsen, ohne jeglichen jugendlichen Glanz und Dynamik – Kinder bemerken das ohne Mitleid mit röntgenartiger Leidenschaftslosigkeit. Vielleicht ist er 29, vielleicht 69 Jahre alt. Sie erinnern sich doch noch an die Zeiten, als Ihnen schon Elftklässler alt vorkamen?

 © David von Becker
Installationsansicht Hamburger Bahnhof, 2012 (Foto: David von Becker/VG Bild-Kunst)
Wenn man die Riesen betrachtet – zwei Erwachsene, die Honert größer als zwei Meter gemacht hat – drängt sich auch die Frage auf, in welchem Maße unsere Kindheitserinnerungen wahr sind. Vielleicht ist es Zeit, die “Festplatte” zu überschreiben? Eine der ersten Arbeiten, die man bemerkt, wenn man den Raum betritt, ist ein leerer Stuhl und ein Tisch, auf dem von Zeit zu Zeit wie eine umgedrehte Schüssel ein Alarmsignal hüpft und schreit. Wer hat gesagt, dass die Kindheit leicht zu überstehen ist?

Man muss noch anmerken, dass es im Hamburger Bahnhof einen großartigen Büchertisch gibt, auf dem man die neueste theoretische Literatur zum Themenbereich zeitgenössische Kultur finden kann. Ich bin dort auf eine soziologische Studie über Hipster gestoßen. Im Kapitel Der Tod des Hipsters, habe ich erfahren, dass die Hipster schon tot sind, obwohl ich dachte, sie seien gerade erst geboren. Die Posthipster sollen hoch leben!

Wo, wann: Hamburger Bahnhof. Martin Honert. Kinderkreuzzug. Bis 7. April. U-Bahn-Haltestelle Naturkundemuseum. www.hamburgerbahnhof.de

Sexualität, Glauben und Übergewicht

Zeitgleich mit der Erstaufführung des letzten, abschließenden Teils der Paradies-Trilogie Hoffnung des österreichischen Provokateurs, des Regisseurs Ulrich Seidel im Rahmen des Berliner Kinofestivals ist als eine der Begleitveranstaltungen in der Galerie C/O Berlin auch die Ausstellung Liebe. Glauben. Hoffnung zu sehen. Foto für Foto werden die Nahaufnahmen der Trilogie Paradies gezeigt, die bezeugen, das der Regisseur es hervorragend versteht ziemlich radikales Unbehagen zu erzeugen. Dieses Talent und seine Überzeugung begründet er selbst so: „Dem Physischen kommt in meinen Filmen große Bedeutung zu. Ich liebe es die ungeschminkten Körper von Menschen hautnah zu zeigen, in diesem ungeschönten Zustand, liegt für mich tatsächlich etwas wie Schönheit”, sagt U. Seidl. Im Interview, das in der Ausstellung zu lesen ist, erzählt der Regisseur, dass ihn auch Perversität und das von der Gesellschaft auferlegte Joch interessieren.

Wenn auch die Galerie C/O Berlin gerade kurz vor dem Umzug steht – das alte Postgebäude wird bald verkauft, lohnt es sich sicher der Galerie auch in ihr neues noch unbekanntes Zuhause. Besonders für Feinschmecker der Fotokunst. C/O Berlin hat sich ihren festen Platz und ihre eigene Identität im berliner Standort für zeitgenössische Kunst erobert.

Wo, wann: Galerie C/O Berlin. Bis 17. März. S-Bahn-Haltestelle Oranienburger Straße.

Von Undīne Adamaite
Übersetzt aus dem Lettischen von Felix Lintner

Veröffentlicht am 14. Februar 2013 in der lettischen Tageszeitung „Diena“
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