Berlin

Berlin, 8.1.2013: Beim Tagesspiegel

 © Undīne Adamaite
Der „Tagesspiegel“ am Askanischen Platz (Foto: Undīne Adamaite)

Der Tagesspiegel hat ein hervorragendes Motto: rerum cognoscere causas, „den Dingen auf den Grund gehen“. In der Kulturredaktion erlebe ich meinen zweiten Kulturschock, diesmal einen professionellen.

Ich habe geahnt, dass es so sein könnte, aber es mit eigenen Augen zu sehen und zu hören, ist eindrucksvoller. In der Kulturredaktion des Tagesspiegels arbeiten im Moment elf Kritiker: Kunstwissenschaftler, Musikwissenschaftler, Historiker, Theater- und Filmkritiker. Bei Diena sind es halb so viele, und die Hälfte von ihnen ist noch mit Redaktionsarbeiten beschäftigt. Sie arbeiten mit freien Autoren zusammen. Im Durchschnitt schreibt jeder von ihnen einen Artikel pro Woche für die Tageszeitung. Eine der Kunstkritikerinnen sagt, dass „die Menschen verschiedene Schreibgeschwindigkeiten haben", was respektiert würde. In der Redaktion von Diena ist das Internet zweifellos schneller, und die Computer sind moderner, doch solch einen Luxus, dass man eine Woche an einem Artikel schreibt, ist leider für keinen Autor vorstellbar.

Der Tagesspiegel hat keine extra Kulturbeilage; die Kulturjournalisten der Diena kreieren auch den Inhalt der wöchentlichen Beilage „KDi“. Währenddessen wird das hiesige intellektuelle Potenzial des Tagesspiegels für Artikel auf den täglichen Zeitungsseiten genutzt. Die Redaktion überrascht angenehm mit einer ungewöhnlichen Stille. Es gibt lange Momente, in denen nur der solidarische Chor des Tastaturklimperns zu hören ist, und einige Kollegen sprechen sogar nur flüsternd miteinander. Ich erkenne, dass wir es bei Diena mit dem Prinzip der offenen Redaktion seinerzeit mächtig übertrieben haben. Hier kann jede Abteilung die Tür hinter sich schließen und in den Grenzen ihres Raumes offen sein. Die Kulturredaktion des Tagesspiegels überzeugt mich, dass man das Recht auf Stille als ersten Punkt in die Menschenrechte von Journalisten aufnehmen sollte.


Von Undīne Adamaite
Übersetzt aus dem Lettischen von Felix Lintner

Veröffentlicht am 22. Januar 2013 im Berliner „Tagesspiegel“ und den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“


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