Athen, 22.3.2013: Athen verfällt der Wehmut
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Blick vom Kalkfelsen Areios Pagos auf die Akropolis am Abend (Foto: Sven Stockrahm)
Sterbende Viertel, verlorene Bewohner: Die Schuldenkrise zerstört Athens Unbeschwertheit und verändert den Charakter der griechischen Hauptstadt.
Nikitas Karagiannis blickt auf Europas schönste hässliche Stadt. Der kräftige Mann mit dem kahlen Schädel sitzt auf dem Gestein des Areios Pagos, hoch über der griechischen Hauptstadt. Im Westen verschwindet die Sonne im Meer und taucht den Kalkfelsen und die Akropolis dahinter in orange. Das attische Licht lockt Touristen hierher. „Die Krise hat Athen und seine Bewohner verändert“, sagt Karagiannis. Besucher spüren davon kaum etwas.
Die Stadt ist ein Hybrid aus Antike und Moderne. Neues grenzt an Altes, Verschleiß und Beständigkeit prägen Athen. Ein Monster aus Beton, Asphalt und Stahl, das sich an die Berghänge im Norden, Osten und Süden drängt. Schön ist die Stadt seit der Militärdiktatur und dem exzessiven Wohnungsbau Ende der sechziger Jahre nie gewesen. „Geglänzt hat Athen ein einziges Mal“, sagt Karagiannis, zu den Olympischen Spielen 2004. Dieser Glücksmoment war flüchtig.
Karagiannis ist seit mehr als 15 Jahren als Kulturreporter in Athens Straßen und Gassen unterwegs. Der Grieche ist hier geboren und zur Schule gegangen, hat Kunst und Soziologie studiert. In den achtziger Jahren arbeitete der 53-Jährige als Model, reiste durch Europa. Als Fotograf war er in London und Paris. In Rom verliebte er sich in einen Amerikaner. Es folgten ein paar Jahre in Miami und Los Angeles. Karagiannis hat viel gesehen, Athen holte ihn stets zurück. „Ich liebe die Stadt wegen ihrer Geschichte und den glücklichen Zeiten, die ich hier verbracht habe. “
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Athen unterhalb des Areios Pagos (Foto: Sven Stockrahm)
Er erzählt vom kräftig süßlichen Geruch, den die Pomeranzenbäume im Frühjahr verströmen. Wenn er heute durch Athen läuft, beginnt ihm seine Heimat fremd zu werden. Die Schuldenkrise hat Athen hart getroffen. Im Zentrum der Stadt zeigt sie sich. Rund um den Omoniaplatz wird offenbar, was auf dem Areios Pagos verborgen bleibt. „Seit sechs oder sieben Jahren zählt dieser Teil Athens zu den gefährlichen Gegenden“, sagt Karagiannis. Er ist nicht mehr oft hier. Einheimische warnen Touristen davor, herzukommen, vor allem in der Nacht.
Elend am Omoniaplatz
Nördlich des Platzes blättert Farbe von den Mauern der Wohnhäuser, Kälte und Nässe haben Putz aus den Fassaden geschlagen. Hinter beschmierten Rolläden und zerbeulten Metallgittern ruhen die Hallen einstiger Supermärkte, Boutiquen und Kaufhäuser. Dutzende Läden und Hotels haben dicht gemacht, einige hatten erst zu den Olympischen Spielen eröffnet. Abfall stapelt sich in den Mülltonnen an den Bordsteinen. Auf den Gehwegen haben Händler Tische aufgestellt und verkaufen billige Plastikwaren. Menschen hasten durch die Straßen. Eine Frau hockt auf einer Treppenstufe und bittet um Kleingeld. Sie murmelt vor sich hin.Die Blüte dieser Gegend begann vor einem Jahrhundert, traditionsreiche Geschäfte eröffneten, die Mieten stiegen. Die Schuldenkrise und Sparprogramme haben diese Ära endgültig beendet. 26 Prozent der Griechen sind arbeitslos, 1,3 Millionen Menschen. Den Jungen fehlt eine Perspektive, mehr als die Hälfte unter 24 Jahren findet keinen Job. Denen, die noch Arbeit haben, wurden die Gehälter um 30, 40 Prozent gekürzt. Das Land spart, das Volk zahlt.
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Hauseingang im Omoniaviertel (Foto: Sven Stockrahm)
Das spüren vor allem die Einwanderer, die am Omoniaplatz wohnen. Seit dreißig Jahren schon sinken die Mieten, viele Athener zogen weg. Es wurde ihnen zu eng. Migranten auf der Suche nach Arbeit übernahmen die günstigen Wohnungen. Doch seit der Krise findet hier niemand mehr einen Job. Sozialleistungen wurden gestrichen. Selbst Schwarzarbeiter beschäftigt kaum noch jemand. Oder man verpfeift sie nach getaner Arbeit an die Polizei, um sie ja nicht bezahlen zu müssen.
Migranten und Flüchtlinge bekommen Zorn zu spüren
700.000 Flüchtlinge sollen zwischen 2006 und 2011 illegal nach Griechenland eingereist sein. Sie kommen aus Afrika, Asien, vom Balkan und der Arabischen Halbinsel. Nun sind sie in einem Slum aus Beton gelandet. Hier hausen sie zu Dutzenden auf wenigen Quadratmetern.In vielen Hauseingängen liegen schmutzige Decken, Zeitungspapier, Plastiktüten, Kippen. Es riecht nach Fäulnis und Urin. „Vor einigen Jahren gab es in Athen praktisch keine Obdachlosen“, sagt Karagiannis. Die wenigen, die ohne Bleibe waren, kannten die Bewohner in der Nachbarschaft meist beim Namen. Die Leute steckten ihnen Essen zu, manchmal boten sie ein Nachtlager an. „So hat die griechische Gesellschaft im Kleinen funktioniert“, sagt Karagiannis.
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Hier patrouillieren Polizisten, die gegen Drogendealer und illegal eingereiste Migranten vorgehen sollen (Foto: Sven Stockrahm)
In schweren Stiefeln und marineblauen Uniformen laufen Polizisten in Grüppchen durch die Straßen. Sie tragen kugelsichere Westen. „Die Polizei will die Gegend angeblich von den Geächteten und Gesetzlosen sowie den Drogenproblemen befreien“, sagt Karagiannis. „Die Wahrheit ist, sie veranstalten kleine Pogrome. “ In einer Seitengasse drängeln sich rund 20 Menschen. Beamte kontrollieren einige Männer vor einer Garage. Vielleicht geht es um Drogen, oder die Festgehaltenen sind Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis. Geschrei, leichter Protest.
Zunehmende Ausländerfeindlichkeit
Die Männer verstummen, als ein Motorrad vorbeirauscht. Die Angst vor Schlägern ist groß. In der Nacht brettern oft vermummte Gestalten über die Gehwege. Mit Stöcken knüppeln sie Migranten nieder. „Ich habe selbst Neonazis gesehen, die Jagd auf Einwanderer machen“, sagt Karagiannis. Die Polizei unternehme kaum etwas gegen sie. Viele vermuten sogar, Beamte seien selbst in einige Übergriffe verwickelt.
Nikitas Karagiannis, 53, ist seit mehr als einem Jahrzehnt in Athen als Reporter und Fotograf unterwegs. Er liebt die geschäftigen Straßen, die kleinen Bars und die Mentalität in der griechischen Hauptstadt (Foto: Sven Stockrahm)
Was hier passiert, sprengt einen Rahmen, sagt Karagiannis. In jeder Großstadt gäbe es Stadtteile mit vielen Einwanderern, auch Orte mit Drogenproblemen. Athen habe das früher nicht viel anhaben können: „Die Stadt lebte davon, dass sich hier Leute unterschiedlicher Kulturen trafen und vermischten.“
Menschen fliehen vor dem Alltag
Hoffnung und Zuversicht sind in Athen gewichen. Nur an wenigen Orten durchbrechen die Menschen ihre Antriebslosigkeit im Alltag. Ausgerechnet im Gazi-Viertel, das bis vor Kurzem ein ähnliches Schicksal ereilt hatte wie heute die Gegend um den Omoniaplatz, fliehen die Athener in die Nacht.„Es ist die griechische Mentalität, das Leben zu genießen“, sagt Karagiannis. Bis in die neunziger Jahre war Gazi eines der ärmsten Viertel Athens, mit schäbigen kleinen Barracken. Überbleibsel der Arbeiterquartiere von einst, als die Gasfabrik Mitte des 19. Jahrhunderts brummte. Rund um den alten Gasometer hat sich zur Jahrtausendwende vieles verändert. Athen steckte viel Geld in diesen Stadtteil, aus der historischen Fabrik wurde ein Kulturzentrum und ein Museum. Bars und Klubs eröffneten.
Nachts zwängen sich Motorroller und Autos nahe der U-Bahnstation Kerameikos an den Passanten vorbei, die durch die vollen Gassen laufen. Auch Karagiannis kommt hier auf andere Gedanken. Oft ist er mit Freunden hier. Junge und alte Griechen, Migranten, Touristen, Studenten, Schwule und Lesben. Alle zusammen feiern hier bis in den Morgen.
In den Klubs spüren die Feiernden den Schweiß der anderen auf der Haut, schnappen auf den Tanzflächen nach Luft. Die Krise verschwindet für ein paar Stunden hinter Bässen und Neonlicht. Manische Flucht ins Vergnügen. "Ihre letzten Euros geben die Griechen für einen Drink aus", sagt Karagiannis. Viele können sich diese Abende eigentlich nicht mehr leisten. Wer noch Arbeit hat, hat deutlich weniger Geld im Monat als vorher. Selbst der Mindestlohn wurde um 20 Prozent gekürzt: etwa 600 Euro im Monat. Davon müssen Miete, Strom, Wasser, Steuern und Versicherungen gezahlt werden.
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Künstler haben die betenden Hände des Malers Albrecht Dürer an eine Häuserwand gemalt: Sie stehen Kopf (Foto: Sven Stockrahm)
Ganz unsichtbar ist die Krise auch in Gazi nicht. An kalten Tagen riecht es nach verkohltem Holz und Plastik. Die Menschen können das Heizöl nicht mehr zahlen. Stattdessen verfeuern sie billiges Brennholz, Abfall und alte Möbel. Smog hängt in den Straßen.
„Die Dekadenz der griechischen Gesellschaft spiegelt sich nirgendwo so sehr wie in Athen“, sagt Karagiannis. Vetternwirtschaft und Korruption waren schon immer ein Problem. Vor der Krise konnte man nicht einmal einen Führerschein bekommen, ohne Schmiergeld zu bezahlen. Die politische Klasse und die reichen Patriarchen wirtschafteten in die eigenen Taschen. Es fehle an Visionen und Leidenschaft, sagt Karagiannis. Das alles richte das Land zugrunde.
Athen litt schon viele Male
Auf dem Areios Pagos über den Dächern Athens ist es kühl geworden. Das Meer hat die Sonne geschluckt. Die Besucher brechen auf. Karagiannis streift seine Mütze über, die ihm wie ein Schopf in den Nacken fällt. Wie kann diese Stadt der Lethargie entkommen? Athen hat schon schlimme Krisen überstanden, allein im 20. Jahrhundert. In den zwanziger Jahren waren da die Elendsviertel. Dorthin flohen die Griechen vor den Massakern der Türken im osmanischen Reich. Im Zweiten Weltkrieg litt die Stadt unter den deutschen Besatzern, die Zehntausende Menschen verhungern ließen. Ein Bürgerkrieg folgte auf den Weltkrieg, und Ende der sechziger Jahre terrorisierte das Militär die Stadt.Nun also die Schuldenkrise. Es ist ein schleichender Verfall, den Karagiannis in seiner Heimatstadt beobachtet. Aufgeben kann er sie nicht. Er will, dass Europa hinschaut. Immer wieder führt er Menschen durch Omonia und versucht die Bewohner mit seinen Geschichten zu motivieren. „Athen hat als erste griechische Stadt ihr Lächeln verloren“, sagt Karagiannis. Aber die Athener sind stolz.
Von Sven Stockrahm
Veröffentlicht am 22. März 2013 bei „Zeit Online“
Veröffentlicht am 22. März 2013 bei „Zeit Online“