Athen

Athen, 22.2.2013: Mit einem Deutschen unterwegs in Athen

 © Sven Stockrahm
Versteckte Krise: Vor dem Parlament geht das Leben seinen normalen Gang, scheinbar (Foto: Sven Stockrahm)

„Einem deutschen Journalisten das krisengeschüttelte Athen zu zeigen, fühlt sich an, als setze man dir eine Adrenalinspritze mitten ins Herz.“ Nikitas Karagiannis

Schon zu Beginn unserer Bekanntschaft war mir klar, dass der 29jährige Sven Stockrahm von Zeit Online keine Ahnung davon hatte, was hier wirklich los ist. Einmal, weil er zum ersten Mal in Griechenland war und überhaupt keinen Anhaltspunkt hatte; zweitens, weil er kaum über die touristische Plaka, die Gegend um den Syntagma-Platz oder über den Vassilissis-Sofias- bzw. Vassiliseos Konstantinou-Boulevard hinausgekommen war. Was er in den letzten Jahren über unser Land erfahren hatte, stammt aus den nicht immer sachlichen Publikationen eines Großteils der deutschen Presse.

„Ich bin mir sicher, dass die griechische Krise nicht nur dem entspricht, was in Europa darüber zirkuliert, und ich möchte wirklich mehr darüber erfahren“, gestand er mir eines Abends, als wir in Gesellschaft von Kollegen bei einem Glas Wein zusammensaßen. Ich erbot mich, ihm das Athen des Memorandum zu zeigen, die Wunden menschlichen Existenzen, die erst jenseits der klassischen Altertümer zu sehen sind: all das, was ein in seinen Grundfesten erschüttertes politisches Establishment vor „indiskreten“ Augen zu verstecken sucht. Aber auch das Athen der schicken Viertel, der hotspots dieser Stadt für Zerstreuung und Kunst. Und Sven nahm mein Angebot an.

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Wo Athen zu sterben beginnt: Nahe des Omoniaplatz kauert eine Frau vor einem der geschlossenen Geschäfte (Foto: Sven Stockrahm)

Wir liefen stundenlang: Omoniaplatz, 3.September-, Patission- und Acharnon-Straße, Vathis-Platz. In der Menandrou-Straße wurden wir Zeugen, wie Migranten verhaftet wurden, in der Sophokleous-Straße sahen wir zu, wie von der Armenküche der Stadt Essen verteilt wurde, bei der Anlaufstelle der „Ärzte ohne Grenzen“ gingen wir an langen Schlangen vorbei. Im Viertel Psyrri machte Sven ein Foto vom Theater Empros und dann gingen wir in gerade neu eröffnete Galerien. In der Agia-Irini-Straße und am Karytsi-Platz sah er, wie die Stadt von den Toten auferstand. Vom historischen Anafiotika-Viertel und dem Areios-Pagos-Felsen war er fasziniert. Ich redete, er nahm auf und fotografierte.

Die griechische Krise: Medien und Wirklichkeit

Am Ende fragte ich ihn nach seinen Eindrücken. Er war schockiert und überwältigt: „Ich hatte schon meine Bedenken, was so alles in deutschen Medien über Griechenland geschrieben wird“, begann er. „Da werden Klischees und Vorurteile laut, etwa, dass die Griechen faul sind, ihren Job vernachlässigen und andere für ihre Fehler verantwortlich machen. Mir war klar, das kann nicht die ganze Wahrheit sein. Als ich hierher kam, wollte ich mehr darüber wissen, was eigentlich Sache ist“.

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Anhänger von Spitha protestieren auf dem Syntagmaplatz (Foto: Sven Stockrahm)

Am ersten Abend auf dem Syntagmaplatz konnte er keine Krise identifizieren. Wo sind die Menschen, denen es schlecht geht? Eine Woche später, immer noch in Athen, begann er zu begreifen. „Ich habe viele dicht gemachte Geschäfte gesehen, Bettler, Obdachlose, die auf dem Bürgersteig schlafen, aber all dies gibt es auch in anderen Großstädten, etwa in Berlin. Ja, sagte ich mir, da ist ein Problem, aber so tragisch ist es nicht. Dann erfuhr ich, dass die Leute Möbelstücke im Kamin oder Ofen verbrennen, weil kein Geld für Heizöl da ist. Das war etwa einer der Hinweise auf bestehende Armut. Man berichtete mir auch von den hohen Gehalts- und Rentenkürzungen, von der Jugendarbeitslosigkeit. Letztlich kann man nur im Gespräch mit den Menschen besser verstehen, was dort abläuft“.

Die Mentalität des Überlebens

Trotz seiner Betroffenheit darüber, wie die Krise den Alltag der Menschen prägt, glaubt er, die Mentalität der Griechen besser verstanden zu haben, „wenn ich zum Beispiel die Erwartungshaltung habe, dass abends kaum jemand unterwegs ist, und nun begreife, dass die Leute der Misere ein wenig entkommen möchten und gerade deshalb ausgehen.“ Diese Bemerkung bezog sich auf das Gazi-Viertel mit seinen übervollen Bars. „Anfangs hatte ich damit in einem armen Land am Tiefpunkt nicht gerechnet, aber jetzt kann ich das total nachvollziehen“. Ihm ist klar: Das Leben geht weiter, wenn auch mühsam, und die Menschen möchten sich an etwas festhalten. Und so hofft er, dass wir es schaffen.

„Nichts von all dem, was ich über euer Land gehört habe, stimmt. Es liegt nicht an den Leuten, dass sie keine Arbeit finden, und jeder Deutsche könnte das verstehen, wenn er sehen würde, was hier passiert und wie dramatisch sich euer Alltag verändert hat. Auch in Deutschland gibt es Probleme, aber keinen Vergleich damit, was ihr hier durchmacht. Man muss das sehen, nicht nur darüber lesen“.

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Auf der Areopag, nahe der Akropolis: Sven Stockrahm ist zum ersten Mal in Athen (Copyright: Sven Stockrahm)

Sven bewundert, was ihm von Griechen als filotimo beigebracht wurde: „Das gilt wirklich!“ sagt er begeistert. „Trotz der Krise habe ich dieses filotimo gespürt: Nicht nur Gastfreundschaft, sondern eine Mischung aus Stolz, Solidarität und Gerechtigkeitssinn“. Wie Athen einmal ausgesehen hat, erschließt er aus ein paar alten Bauten, die ihm gefallen haben: „Hier atmest du Geschichte bis zurück in die Antike“. Die in den letzten 60 Jahren überall erstellten Zementgebäude haben es ihm gar nicht angetan. „Die sind mir schon von oben aufgefallen, kurz vor der Landung in Athen. Wenn man dann aber mit den Leuten zu tun hat, gewöhnt man sich selbst daran. Das Beste an meinem Aufenthalt waren aber die neuen Freunde, durch die ich mich wie zu Hause fühlte. Bestimmt komme ich wieder!“, versicherte er und die Freude darüber, eine ganz andere, für ihn neue Welt entdeckt zu haben, die nun auch ein wenig zu ihm gehört, war ihm anzusehen.
Veröffentlicht am 7. März 2013 im griechischen Onlinemagazin www.metropolispress.gr und am 8. März 2013 in der Printversion
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